4. Kapitel


Unter den Fluß




Diesen Teil des Schlangenflusses kannten die Gefährten recht gut. Erst vor ein paar Monaten waren sie hier gewesen und hatten nur ein paar hundert Schritt weiter eine Brücke aus Eis über den Fluß geschlagen.
"Die Insel da ist auf jeden Fall neu", fuhr Telsek fort, die Hand immer noch nach dem blassen Felsen ausgestreckt, der von wütend strudelndem Wasser umrundet wurde.
Fast machte es den Eindruck, als würde sich der große Fluß über das unerwünschte Hindernis ärgern, das ihm jemand rücksichtslos in den Jahrtausende alten Weg gelegt hatte. Nur sieben oder acht Schritt vom Ufer entfernt ragte der Stein aus den Fluten. Er war nicht einmal sehr groß, und an dieser Stelle mochten ihn die Flußschiffer kaum bemerken. Er lag weit außerhalb der Fahrrinne und ragte nur einen Schritt aus dem Wasser. Ein unauffälliger Fels, nicht weiter.
"Wie kommen wir da rüber?", fragte Will. "Ich kann nicht schwimmen und außerdem …"
Dryan nickte. Gerade weil er die "Bewohner" des Schlangenflusses nur aus Büchern kannte, wollte er kein Risiko eingehen.
"Schickt ihr bitte den Brithan nach Hause?"
Telsek winkte naß, aber unbeschädigt vom Felsen herüber.
"Hier ist der alte Junge eher fehl am Platz und er hat uns genug geholfen."
"Verdammter Dickkopf von einem verfluchten Troll", murmelte Dryan und gab dann dem zottigen Tier einen vorsichtigen Klaps auf die Flanke.
Trotzdem wartete der Brithan, bis er ein für ihn verständliches Zeichen von Telsek erhalten hatte, bevor er mit einem grüßenden Schnauben in nördlicher Richtung verschwand.
"Es ist nicht allzu tief", setzte Telsek fort, nachdem sein gehörnter Begleiter der letzten Tage verschwunden war. "Wenn ihr eure Ausrüstung auf dem Kopf tragen könnt, passiert nichts."
Niemals würde der Troll sich anmerken lassen, daß ihm der Abschied vom Brithan schwerfiel. Ihm war durchaus klar, daß dieses Wesen sowieso in ein paar Stunden die anerkennende Bindung gelöst hätte. Aber irgendwie hatte er den zottigen Fleischberg liebgewonnen. Hoffentlich hatten sie doch irgendwann einmal ein paar Monate Zeit, so daß er sich ausbilden lassen konnte.
Inzwischen waren auch die beiden Zauberkundigen die paar Schritte durch das dunkle Wasser gewatet. Dryan hatte fast seine Sachen fallenlassen, als etwas seinen Knöchel streifte. Aber es war bloß ein aufgescheuchter Fisch. Das hoffte er zumindest.
Die Kleidung des Magiers war natürlich im Handumdrehen wieder trocken. Will schüttete das Wasser aus den Stiefeln.
"Ich hätte sie ausziehen sollen", murmelte er schulterzuckend.
Dann richtete er sich auf und begann, die Oberfläche der Insel zu untersuchen. Es schien wirklich nichts weiter als sonnengewärmter grauer Fels zu sein, der etwa drei Schritt Durchmesser hatte. Nichts auf seiner abgerundeten Oberfläche wies daraufhin, daß er nicht schon seit Jahrtausenden hier lag. Wenn sie es nicht genau wüßten … Und wenn das nicht die beiden ziemlich neu aussehenden eisernen Ringe wären, die wie zum Anbinden eines Schiffes gemacht. waren.
"Hier geht es ziemlich weit runter", sagte Telsek, der sich auf der dem Ufer abgewandten Seite des Felsens hingekniet hatte und in das Wasser starrte. "Da kann man nicht mehr waten. Ob es einen Zugang unter Wasser gibt?"
Dryan, der inzwischen eine erfolglose Astralsicht probiert hatte, zuckte die Schultern.
"Eigentlich sieht das wirklich nur aus wie ein großer Stein. Aber ich denke, du könntest recht haben. Wozu sollte man sonst ein Boot anbinden können?"
Will stimmte rasch eine Zaubermatrix ab, kramte sein starkes Seil aus dem Rucksack und zog diesmal die Stiefel aus.
"Ich werde mal ein Stück tauchen. Wenn etwas ist, zieht ihr mich hoch."
Seine beiden Freunde nickten. Auch das machten sie nicht zum ersten Mal; allerdings hatte sich Will nie in so gefährliche Gewässer begeben. Natürlich würde der Obsidianer schnell sinken. Den Kiemenzauber beherrschte er gut genug. Und Telsek würde ihn auf das Notfallzeichen rasch aus dem Wasser ziehen.
Ohne weitere Worte ließ sich Will mit dem Lichtquarz in der einen und einem langen Dolch in der anderen Hand von der Flanke des Felsens rutschen.
Eine Viertelstunde später tauchte der Elementarist kopfschüttelnd wieder auf.
"Nichts", sagte er. "Es sind ein paar Schritt bis ganz nach unten, alles normaler Felsen. Allerdings ist er wirklich neu. Es sieht unten so aus, als hätte ihn jemand direkt an diese steil abfallende Stelle gestellt - oder aber aus dem Grund wachsen lassen."
"Woran hast du das gesehen?", wollte Telsek wissen.
"Die Algen … Alle Steine sind damit überwuchert, aber der Fels nicht."
"Also muß es doch etwas hier oben sein", stellte Dryan fest. "Wir müssen noch einmal gründlich suchen."
"Was meinst du?"
"Also, wenn du mich fragst, ist das ein ganz primitiver Zugangsmechanismus", sagte der Elf. "Nicht nur der Auftraggeber muß hier ein- und ausgehen können, auch seine Handlanger. Irgendwie müssen die Zwerge ja hinein und dann auch noch versorgt werden. Das macht der Typ bestimmt nicht alles allein."
"Vielleicht ein Codewort?" vermutete Will. "Da können wir ja lange raten. Kannst du dich noch erinnern, wieviele Tage wir damals gebraucht hatten, um den Geheimschrank des alten Kiranik zu knacken?"
"Gut, daß du den Namen seiner Geliebten rausgefunden hast."
Die Zauberkundigen schwelgten in Erinnerungen an die Studienzeit, während Telsek schmunzelnd noch einmal die Oberfläche des Felsens absuchte. Es dürfte einfach nichts so Kompliziertes sein, sonst hätten sie ohne einen Anhaltspunkt keine Chance.
Mitten auf einer handtellergroßen glatten Fläche entdeckte der Troll schließlich einen kleinen senkrechten Schlitz, der aussah wie …
Telsek griff in das Lederbeutelchen, das an seinem Gürtel hing, und machte einen Versuch. Die Kupfermünze verschwand mit einem leisen Klirren in dem Spalt und in der Tiefe knirschte etwas.
"Was war das?", fragte Dryan aufgeregt.
"Hier, das ist so ein Gerät wie der Orakelstein, den dieser Witzbold in Travar aufgestellt hat, erinnert ihr euch?"
Will beugte sich über den Schlitz und schüttelte den Kopf.
"Das kann nicht wahr sein. Das ist zu simpel!"
"Warum nicht?", fragte Dryan, immer noch vergnügt. "Das kleine Ding findet man kaum, wenn man nicht sehr gründlich sucht. Und außerdem schätze ich mal, daß man mit einfachen Münzen nicht weit kommt."
Er zog ein Silberstück aus der Tasche, schob den Obsidianer beiseite und versenkte die Münze vorsichtig im Schlitz. Wieder klirrte es, als würde das Silber einen engen Schacht hinunterfallen; wieder war ein leises Knirschen zu hören, wie Stein, der über Stein schleift.
"Das Geräusch kommt aus mindestens zwanzig Schritt Tiefe", stellte Will fest, dessen Hände fest auf dem Felsen lagen. "Weit unter der Wasseroberfläche, sogar weit unter dem Grund hier."
"Also riskieren wir es", murmelte der Magier und wartete einen möglichen Protest seiner Gefährten gar nicht erst ab.
Er fingerte unauffällig eine der beiden Orichalkummünzen aus dem Geheimfach seines Gürtels und steckte es in den Schlitz. Wieder klirrte es, diesmal allerdings in einer tieferen Tonlage. Das Knirschen begann ebenfalls wie erwartet, aber es brach nicht sofort wieder ab.
"Was hast …"
Will unterbrach seine Frage und wich vor der Öffnung zurück, die sich im Fels bildete. Wie eine riesige steinerne Knospe entfaltete sich die Kuppe der Insel in fünf Segmenten, die an Blütenblätter erinnerten, und gab den Blick auf einen ins Dunkel führenden Schacht frei, in dem sich langsam und knirschend eine Wendeltreppe emporschraubte.
"Frag lieber nicht", antwortete Dryan. "Es war eine von den beiden …"
"Vielleicht hätten auch einfach ein paar mehr Silbermünzen genügt", sagte Will schließlich.
Telsek grunzte mißmutig; seine gute Laune hatte sich schlagartig verflüchtigt.
"Laßt uns den Laden aufräumen, dann kriegen wir sie vielleicht wieder. Hier ist so eine Stimmung …"
"Schon gut, mein Freund", versuchte Dryan, den Troll zu besänftigen. "Du hast zwar recht, das Ganze ist ziemlich eigenartig. Aber wir schlagen nicht einfach zu."
"Natürlich nicht", erwiderte Telsek unwirsch. "Das ist nicht mein Stil, das weißt du. Aber es riecht nach Angst und Schmerz und Tod."
"Ja", sagte Will mit noch tieferer und langsamerer Stimme als üblich.
Und sonst nichts.

Nach Telseks Schätzungen führte die Wendeltreppe etwa dreißig Schritt abwärts, bevor sie in einen kurzen, unbeleuchteten Gang mündete, der in alle Richtungen durch drei Holztüren mit schweren eisernen Bändern abgeschlossen war.
Dryan hob die Hand, um das vereinbarte Zeichen für absolute Ruhe zu geben, aber die Gefährten waren die Treppe ohnehin schon ohne Geräusch heruntergeschlichen und hatten nicht vor, die Stille zu unterbrechen, so daß die Handbewegung des Magier nur ein groteskes Schattenspiel im Schein des Leuchtquarzes abgab.
Hinter der Tür gegenüber war etwas. Durch das dicke Holz stark gedämpft waren das Klirren von Waffen und leise Stimmen zu hören. Wieder eine schon oft durchgespielte Situation.
Die üblichen Vorbereitungen waren schnell und fast lautlos getroffen. Falls hinter der Tür ein paar harmlose Namensgeber waren, konnte man die Waffen immer noch sinken lassen und die Zauber unterbrechen. Ansonsten blieb nur die ebenso übliche Hoffnung, daß es auch diesmal nicht zu starke Gegner waren.
Mit einem harten Tritt neben das Schloß öffnete Telsek die Tür und stürmte in den kleinen Raum, sofort einen Satz zur Seite machend, um den beiden anderen Platz für ihre Zaubersprüche zu geben.
Aber die Namensgeber hinter der Tür waren nicht im Geringsten harmlos. Ein knappes Dutzend gerüsteter Wächter sprangen von Hockern auf, auf denen sie gesessen hatten, dabei zogen sie ihre Waffen. Ein Troll fegte brüllend den Tisch in der Mitte des Raumes zur Seite, um Platz zum Kämpfen zu haben. Dann traf ihn der erste Feuerball.

Der Kampf dauerte nur wenige Minuten.
Telsek zog die beiden Leichen aus dem Weg, während Will und Dryan die Bewußtlosen gründlich fesselten und knebelten.
"Das war fast zu einfach, meint ihr nicht?" fragte der Elf und klopfte ein wenig Staub von seiner Robe.
"Hmm", machte Telsek. "Mehr die Überraschung. Die nächsten werden schwieriger."
"Ich staune bloß, daß sie noch nicht da sind", fügte Will hinzu. "Wir waren nicht gerade leise."
Schulterzuckend wies Dryan auf die beiden Türen, die nach rechts und links aus dem Wachraum führten.
"Welche Richtung?"
"Egal", brummte der Troll und trat gegen die linke Tür, die nicht verschlossen war.
Wieder lag ein unbeleuchteter Gang vor ihnen. Und hinter der Biegung war das vertraute Geräusch heranstürmender Bewaffneter zu hören.
Telsek fuhr herum: "Ihr nehmt die, ich die andere Seite!"
Mit zwei langen Sätzen erreichte er die rechte Tür des Wachraumes, die sich gerade öffnete.
Sowohl der Krieger als auch die Zauberkundigen hatten ein leichtes Spiel. Ein Teil der Wächter mochten zwar Adepten sein, aber in den engen Gängen hatten sie keine Chance, an den Gefährten vorbei in den Wachraum zu kommen, in dem sie wenigstens etwas Platz zum Ausholen gehabt hätten. Und die vier Schützen kamen erst zum Schießen, als ihre Kameraden schon am Boden lagen. Allerdings kamen sie weder auf der einen noch auf der anderen Seite mehr dazu, einen zweiten Pfeil auf die Sehne zu legen. Eine Eisbola links und gut vierhundert Pfund wütender Troll rechts hinderten sie wirkungsvoll an weiteren Angriffen.
"Kurze Pause", keuchte Telsek und zerrte an dem Kriegspfeil, der in seinem Oberschenkel steckte. Der andere hatte seinen Oberarm gestreift und nur einen kleinen Kratzer verursacht.
"Brich das Ding ab!" fauchte Dryan mit verzerrtem Gesicht. "Hörst du das? Es geht gleich weiter."
Der Schuß, der seine Robe durchlöchert und zum Glück an einer Rippe abgeglitten war, brannte wie Feuer. Wenigstens war der Pfeil nicht steckengeblieben. Aber wenn die Wächter Gift benutzt hatten …
Die nächste Welle von Angreifern stürmte die Gänge entlang, ebenso unvorsichtig wie ihre Vorgänger. Aber Telseks Bewegungen waren nur unwesentlich langsamer als vorher, zumal er einfach vor der Tür stehenblieb und die Axt schwang. Einige der Wächter fielen ihm direkt in die Klinge, weil sie über die Toten stolperten oder auf dem Blut ausrutschten.
"Da stimmt etwas nicht", murmelte der Troll und schlug der letzten Wächterin, einer T'skrang-Schwertmeisterin, die Breitseite der Axt über den Schädel, den sie zur Tür hereinsteckte.
"Braucht ihr Hilfe?" fragte er, aber dann registrierte er die inzwischen eingekehrte Ruhe auf der anderen Seite.
"Wie sieht es bei dir aus?" ertönte die Stimme des Obsidianers hinter der offenen Tür. Telsek hinkte in den Wachraum zurück und ließ sich auf den kleinen Tisch fallen, der gefährlich knackte.
"Alles klar, aber ich wäre gern den verdammten Pfeil los."
"Dryan folgt noch einem ziemlich angeschlagenen Ork, der versucht hat wegzukommen, aber das schafft er schon. Laß mich mal sehen."
Telsek, der den Schmerz jetzt, wo der Kampfrausch nachließ, wieder intensiv spürte, zeigte Will die stark blutende Wunde.
"Die Widerhaken machen das nicht gerade einfach. Beiß die Zähne zusammen, mein Freund."

Als Dryan zu seinen Freunden zurückkehrte, waren die Wunden schon verbunden und die Toten in einer Ecke aufgeschichtet. Alles in allem waren es dreißig Gegner gewesen - der Stützpunkt war nicht schlecht bewacht gewesen, wenn auch die Art des Angriffs ausgesprochen unklug gewesen war.
"Habt ihr das auch gemerkt?" fragte Telsek, nachdem der Elf von keinen weiteren sichtbaren Gefahren berichten konnte. "So dämlich sind nicht einmal Orkbrenner, daß sie sich in engen Gängen auf einen Kampf einlassen. Und ein paar von denen waren Adepten."
Will nickte.
"Die waren nicht ganz bei sich, würde ich sagen. Nein, nicht besessen, eher eingeschüchtert, verängstigt."
"Gut möglich", erwiderte Dryan und kontrollierte, ob sich das Loch in der teuren Robe inzwischen repariert hatte.
Der Kratzer auf seiner Brust war trotz des Schmerzes harmlos.
Dann fuhr er fort: "In den folgenden Gängen gibt es eine Menge Türen und ein paar eigenartige Geräte. Die Wächter sehen so aus, als wären sie angeheuert worden, so zusammengewürfelt, wie die Truppe war. Aber den Auftraggeber der Leute haben wir noch nicht getroffen. Und …"
"Ich frage mich, warum der sich noch nicht hat blicken lassen", unterbrach ihn Will. "Das muß er doch merken, wenn jemand hier eindringt und seine Truppen dezimiert."
Telsek wiegte den Kopf.
"Entweder er ist nicht da oder schwer mit irgendwelchem obskuren Kram beschäftigt - entschuldigt", sagte er schuldbewußt, als er die strafenden Blicke seiner zauberkundigen Freunde sah.
"Oder aber die Wächter waren nur eine Ablenkung und er hat ein zusätzlich gut gesichertes Versteck", ergänzte Dryan.
"Also, was tun wir jetzt?" fragte der Troll grinsend.
"Alle Türen aufreißen, was sonst."
Will lachte.

Die Gefährten fingen auf der linken Seite an, schon weil aufgrund der Zauber weniger Blut auf dem Boden war.
Dryan führte die Freunde zunächst einmal in den hinteren Teil des Ganges, in den er dem Ork gefolgt war. Nach der Biegung waren auf der rechten Seite drei Türen zu erkennen, die allerdings nicht so stabil wie die am Fuß der Treppe wirkten. Die erste Tür stand sogar ein wenig offen, so als hätte sie jemand in Eile nicht richtig zugezogen. Will hob den Leuchtquarz und gab der Tür einen Tritt.
"Das sieht aus wie ein Schlafsaal", sagte er. "Wir müssen ein paar Wächter aus den Betten geholt haben."
"Können wir später gründlich durchsuchen", erwiderte Telsek nach einem kurzen Blick in den kargen, schlecht beleuchteten Raum.
Die nächste Tür ließ sich ebenfalls einfach aufstoßen. Auch hier ließ sich der Zweck schnell erraten. Der Lagerraum war mit Regalen vollgestellt, die bis zur Decke reichten. Fässer, Kisten und Bündel mit wenig interessantem Inhalt waren eng gestapelt.
"Zwergenproviant für ein paar Jahre, igitt", faßte Telsek die kurze Inspektion zusammen.
Schulterzuckend zog Will die Tür wieder zu.
"Riecht ihr das auch?" fragte Dryan mit angewidertem Gesichtsausdruck, als er die letzte Tür auf dieser Seite öffnete.
Ohne ein Wort drängte sich der Troll an seinem Freund vorbei. Er war Krieger und er kannte den Tod in allen Formen. Aber die lieblos aufgestapelten, aus rohem Holz gezimmerten Kisten in dem Raum widersprachen allen seinen Vorstellungen von ehrenhafter Behandlung Verstorbener. Selbst seinen Feinden hatte er wenigstens eine Feuerbestattung gegönnt, wenn es irgendwie machbar gewesen war. Wortlos hebelte er die erste Kiste auf und unterdrückte mühevoll ein Würgen.
"Licht!" preßte Telsek durch die zusammengepreßten Zähne hervor.
Will kannte ihn lange genug, um keine Fragen zu stellen, und trat mit erhobenem Leuchtquarz näher. Der Anblick des zusammengekrümmten und roh in die enge Kiste gestopften Körpers ließ selbst ihn erschauern.
"Eine Blutelfin", flüsterte er. "Aber … So etwas habe ich noch nie gesehen. Alle Dornen sind weg … Herausgerissen, wie es scheint."
Wortlos drängte sich Dryan zwischen seine riesigen Freunde. So wenig er seine befleckten Verwandten liebte - das war mehr als grausam. Aber auch der eigene Augenschein änderte nichts, Will hatte recht. Dazu waren im gnadenlosen Licht des Quarzes noch langgezogene Brandmale und blauschwarze Spuren von schweren Schlägen zu erkennen.
Telsek trat wortlos zur nächsten Kiste und öffnete sie. Licht fiel auf den Leichnam eines mißhandelten Zwerges, schon halb verwest.
Der Troll drehte sich zu seinen Freunden um; sein graues Gesicht war fast weiß und wirkte wie versteinert. Diesen Ausdruck kannten die beiden inzwischen.
"Wir machen alle auf", sagte Telsek mit dieser besonderen Stimme. "Wir sehen uns alles an. Und wenn wir den Typen erwischen, der dafür verantwortlich ist …"
Stumm machten sich die Gefährten an die grausige Arbeit.
Zwei Dutzend tote Zwerge lagen in den Kisten, ausgezehrt und verletzt, vier weitere zum Teil schwer verstümmelte Blutelfen und drei weitere Namensgeber, die wohl ungehorsame Wächter gewesen waren. Einer der Zwerge teilte sich seinen Sarg mit dem Leichnam eines verstümmelten Windlingsmädchens; ein Mensch und eine Orkin waren von brutalen Folterspuren gezeichnet.
"Keiner ist länger als zwei Monate tot", faßte Dryan schließlich zusammen. "Allzu lange geht das hier unten wohl noch nicht."
Telsek, der sich zwar gefangen hatte, aber immer noch vor sturer Entschlossenheit strotzte, nickte.
"Zwei Monate zu lange", sagte er. "Und wir bringen es zu Ende."
Will stimmte zu: "Weiter geht's. Und hinterher bringen wir die armen Seelen hier raus."
Hinter der weiteren Biegung des Korridors lag nur noch ein kleines Zimmer, in dem wohl ein paar Wächter ihre Zeit zwischen Schlaf und Dienst verbracht hatten. Karten und ein umgestürzter Krug Bier lagen auf dem primitiven Tisch.
"Wie gut muß man als Söldner bezahlt werden, um es in so einer langweiligen Umgebung auszuhalten?", fragte sich Will und betrachtete die groben kahlen Wände.
Dann kehrten die Freunde um.
Die rechte Abzweigung des Gangs war ebenso leer wie bisher, allerdings gab es hier keine Türen bis auf die eine, die wieder ins Treppenhaus führte.
Der nächste Seitenkorridor führte in einen kleinen kreisrunden Raum, dessen Decke gewölbt war. In seiner Mitte stand eine Art Podest oder Sockel, aus dem gleichen Stein gemeißelt wie das gesamte Versteck. Der schritthohe Zylinder sah sogar so aus, als wäre er schon bei der Anlage der Räume vorgesehen und dabei aus dem Fels geschlagen worden. Keine Fuge verriet, ob er erst später in die Zelle gestellt worden war. Im Gegensatz zu den nur grob geglätteten Wänden war seine Oberfläche liebevoll poliert worden.
Oben war ein rundes Loch in den Zylinder gebohrt, in das eine Trollfaust passen mochte. Und um diese Bohrung herum war sorgfältig eine daumendicke und ebenso hohe Mauer aus kleinen würfelförmigen Steinen angelegt.
"Was soll denn das sein?" fragte Dryan mehr sich selbst als seine Freunde.
Der Obsidianer besah sich den Zylinder von allen Seiten, dann hob er unschlüssig die Hände.
"Laßt uns weitergehen", sagte er.
Telsek verkniff sich eine Bemerkung, aber er war sich ziemlich sicher, daß das wieder so ein "obskurer Zauberkram" war. Und wenn Will und Dryan sich nicht auskannten, hatte er erst recht keine Chance.
Im Raum direkt daneben stand ein Zylinder, der ganz genau so aussah wie der, den sie gerade verlassen hatten. Dryan sah sich für einen Moment irritiert um, ob sie nicht unbemerkt in die selbe Zelle geraten waren. Vielleicht eine Art Teleportzauber … Aber dann sah er den Unterschied.
Hier war keine Bohrung, sondern nur eine flache Mulde mit dem gleichen Durchmesser wie im Nebenraum. Und die Steine um die Vertiefung herum sahen eher aus wie normale Kiesel. So als hätten Kinder zum Spiel eine winzige Feuerstelle für ihre Puppen gebaut.
"Auf der anderen Seite sind noch zwei dieser Räume, darauf wette ich", sagte der Elf lächelnd. "Ich glaube, das ist ein Fall für dich, Will, aber laßt uns die anderen Podeste erst einmal ansehen."
Telsek starrte mit gerunzelter Stirn auf das Podest.
"Das sehe ja sogar ich", brummte er. "Und ihr habt gesagt, daß der Eingang auf der Insel primitiv ist. Was ist dann das?"
"Abwarten", erwiderte Will. "Da steckt mehr dahinter, als auf den ersten Blick sichtbar ist."
Der Krieger, der schon seine Zunderdose in der Hand hatte, steckte sie wieder ein.
"Na, dann mal los", sagte er.
Der Gang bog nach Norden ab und nach etwa zwei Dutzend Schritten wieder nach Westen. Und dort fanden sich wie erwartet die beiden anderen runden Zellen.
Die anderen Sockel entsprachen ebenfalls den Erwartungen der Freunde. Will runzelte fast ärgerlich die Stirn.
"So etwas blödsinniges habe ich schon lange nicht mehr gesehen", konstatierte er, als er in das kegelförmige Loch im dritten Zylinder starrte. "Sogar Wirbellinien sind in die Seiten geschnitten. Und dazu diese bescheuerte Architektur. Was für ein Spinner baut so etwas?"
"Einer, den wir demnächst umbringen", antwortete Telsek. "Aber vorher sehen wir weiter. Die Zwerge …"
Dryan nickte und warf nur einen kurzen Blick auf den stilisierten Berg, der auf dem letzten Sockel stand.
Hinter den Türen auf dem nördlichsten Gang verbargen sich nur mehr oder weniger gut eingerichtete Quartiere, bei denen sich schnell feststellen ließ, ob sie jeweils für die Sklaven oder die Wächter gedacht waren. Und am Ende befand sich wieder ein Wachraum, aus dem wohl die zweite Angreiferwelle auf Telseks Seite gestürzt war. "Mehr Wächter als Sklaven, wenn wir mal davon ausgehen, daß die Betten hier umschichtig benutzt wurden", stellte Will fest. "Da scheint sich ja jemand ziemlich vor Eindringlingen zu fürchten."
"Der hat einfach nicht mit uns gerechnet", entgegnete Telsek ohne Humor. "Jetzt laßt uns endlich dieses dämliche Rätsel zu Ende bringen, damit wir weiterkommen."
Es war wirklich so einfach wie Dryan angenommen hatte. Eine Handvoll Wasser in den winzigen Brunnen, ein kleines Feuer aus den Splittern eines zertrümmerten Hockers auf der Feuerstelle, ein Steinbrocken in der Vertiefung des Berges und ein kräftiges Blasen in den Wirbel genügten, und wieder ertönte ein Knirschen aus allen Richtungen.
Ein Teil der Wände zwischen den Räumen mit den Podesten verschwand einfach.
"Das kann doch nicht alles sein", schimpfte Will. "So einfach es sein mag, es muß doch einen Sinn haben außer …"
"Hat es auch", fuhr Telsek dazwischen. "Da war noch ein Geräusch aus dem nordöstlichen Wachraum."
Schnell machten sich die Freunde auf den Weg. Und wirklich war auch hier ein Teil der Wand verschwunden und gab den Blick auf eisenverstärktes Holz frei.
Die Tür im Norden des Wachraumes war fast doppelt so breit wie die anderen und außerdem zweiflüglig. Also mußte dahinter etwas Wichtiges sein, da waren sich die Gefährten auch ohne Absprache einig.
Telsek trat wieder auf Höhe des Schlüsselloches gegen das massive Holz, aber die Flügel gaben erst beim dritten Versuch nach. Dahinter waren die Wände noch grober behauen als im Rest des Unterschlupfs. Ein Gang führte schräg nach unten und schien sich an der Grenze des Quarzlichtes zu verzweigen.
"Das sieht aus wie …" sagte Will nach einem vorsichtigen Blick.
"Zwergenminen", fuhr Dryan fort. "Da hinten klingt es nach Abbauarbeiten. Dafür braucht er also die Sklaven."
Aus der Ferne erklang zwischen den leisen metallischen Geräuschen ein unterdrückter Schrei, durch das Echo der Gänge verzerrt. Das genügte, um Telseks erzwungene Geduld endgültig zu brechen. Ohne auf seine Gefährten zu warten, stürmte der Troll mit hocherhobener Axt in die Dunkelheit.
"Wenigstens hat er sich einen Kampfschrei verkniffen", bemerkte Will trocken, dann folgten die Zauberkundigen dem Krieger.

Als sie den durch ein paar blakende Fackeln schwach beleuchteten Stollen erreichten, aus dem gerade noch Kampflärm zu hören gewesen war, war schon alles erledigt. Telsek wischte mit einem bösartigem Grinsen die Axt an den zerfetzten Kleidungsstücken der vor ihm liegenden toten Trollin sauber, zwei weitere Trolle lehnten kopflos an der Wand und etwa zwanzig erschrockene Zwerge drängten sich zitternd vor dem Stollenende zusammen, schwere Ketten an den Fußgelenken.
Dryan verkniff sich mühselig ein Lächeln. Selbst im Licht des Quarzes wäre es einem unvoreingenommenen Betrachter nicht möglich gewesen, den blutbefleckten Krieger nicht für einen weiteren Sklaventreiber zu halten. Und den gefundenen Leichen nach zu urteilen, hatten die Bergleute schon zu oft unerklärliche Auseinandersetzungen erlebt.
"Beruhigt Euch", sagte der Magier mit dem freundlichsten Lächeln, das ihm möglich war. "Wir sind gekommen, um Euch hier rauszuholen. Unser Freund sieht zwar grimmig aus, aber so etwas macht ihn einfach nur wütend."
Will stieg vorsichtig über die abgeschlagene Hand der Trollin, die immer noch eine schwere Skeorxlederpeitsche umklammert hielt.
"Habt keine Angst", ergänzte er. "Wir nehmen Euch nur noch die Ketten ab, dann könnt ihr gehen."
Die Zwerge versuchten, noch weiter zurückzuweichen, aber die Stollenwand gab trotz einiger verzweifelter Wünsche nicht nach. Auch Will bemühte sich jetzt um ein Lächeln und Telsek steckte die Axt in die Öse an seinem Gürtel.
"Und wohin?" wagte sich schließlich einer der Zwerge zu fragen. "Wir kommen nicht weit, bis er uns findet."
Der Sprecher war ein kräftiger Mann mit schwarzem Bart, und er hatte als Einziger die schwere Spitzhacke nicht fallengelassen.
Telsek nickte und bemühte sich vergebens, weniger gefährlich auszusehen.
"Ihr habt recht. Noch haben wir den Anführer dieser …" - er trat knurrend nach einem der Toten - "nicht gefunden. Wißt Ihr mehr über ihn?"
"Dolmos!"
Eine Zwergin spuckte den Namen wütend aus. So langsam schienen auch die anderen Bergarbeiter Mut zu fassen.
"Er hat da oben so etwas wie ein Labor. Aber wir haben noch niemanden wieder herauskommen sehen, der dorthin gerufen worden ist. Wir schürfen hier unten nach Wahrer Erde; es gibt erstaunlich viel davon."
Wenigstens einen Namen und eine vermutliche Disziplin hatten sie. Das war zwar nicht viel, aber wenigstens etwas. Und wahrscheinlich mußten sie oben nur das Rätsel der Elementpodeste lösen, um diesem Dolmos gegenübertreten zu können. Es wäre zwar günstiger gewesen, wenn die Gefährten etwas mehr Vorbereitungszeit oder wenigstens eine Rast haben konnten, aber es war schon mehr Glück als erwartet, daß der verrückte Elementarist bisher nicht eingegriffen hatte.
Wie so oft brauchte es keine Worte mehr.
"Verbarrikadiert Euch hier unten", wandte sich Will an die Zwerge. "Nehmt die Stützbalken aus den Stollen und Eure Werkzeuge. Es gibt erstmal keine Wächter mehr. Und laßt mich mal die Ketten sehen, ich vermute, da liegt ein Zauber drauf."

Nur zehn Minuten später schlossen die Freunde das Tor zu den Stollen und hörten die fieberhaften Arbeiten der Zwerge dahinter.
"Ein guter Elementarist, da bin ich mir sicher, aber ich fürchte, er beherrscht noch ein andere Disziplin. Das wird nicht leicht", faßte Will seine Untersuchung beim Neutralisieren des Bindezaubers zusammen.
"Und wie lange halten sie es da unten aus, wenn wir Dolmos nicht besiegen können?" fragte Telsek.
"Dann sind sie immer noch in der Überzahl. Sie haben eine Chance. Und in den Vorratsräumen ist genug Proviant, daß sie bis zur nächsten Anlegestelle kommen. Oder bis zu einem Dorf."
Dryan versuchte, zuversichtlicher zu klingen als er es wirklich war.
Der Troll wiegte den Kopf.
"Lochost stehe ihnen bei, wenn wir es nicht schaffen", sagte er nur leise.
Dann machten sie sich auf den Weg zu den Podesten. Daß sich die Wände zwischen den Sockeln geöffnet hatte, konnte eigentlich nur bedeuten, daß man problemlos und eventuell schnell zwischen ihnen wechseln sollte. Aber was war die Lösung des Rätsels?
Das Öffnen der Tür zu den Minen mußte natürlich einfach sein, damit die Sklaventreiber oder Wächter ein- und ausgehen konnten. Aber auch Dolmos mußte in sein Labor kommen, und das dürfte natürlich nicht ganz so einfach sein.
"Ich hoffe, es gibt nicht so etwas wie einen speziellen Schlüssel, den nur Dolmos persönlich hat", sagte Will, nachdem er sich die Podeste wieder und wieder gründlich angesehen hatte.
Telsek stöhnte auf.
"Vielleicht", meinte Dryan, der die Hoffnung nicht so schnell aufgeben wollte. "Aber irgendwie muß er doch für seine Untergebenen erreichbar sein. So etwas wie ein Alarmanlage gibt es wohl nicht, sonst hätten wir ihn längst auf dem Hals gehabt. Und der Typ hat eine fanatische Vorliebe für Elemente."
Der Troll blickte auf.
"Sagt mal, war bei der ersten Truppe nicht eine dabei, die wie eine Art Oberwächter aussah?"
"Stimmt, diese Menschenfrau mit der polierten Rüstung", erinnerte sich auch Will. "Wir sollte mal ihre Taschen durchsuchen."
Aber da waren die beiden anderen schon auf dem Weg in den ersten Wachraum.

"Elementarmünzen", sagte Dryan kopfschüttelnd. "Dieser Dolmos ist wirklich nicht sehr einfallsreich."
"Mag sein, aber kennst du jemanden, der immer welche in der Tasche hat, auch noch von jeder Sorte?" fragte Will.
"Du hast recht. Hoffentlich reicht jeweils eine, den Rest würde ich gern behalten."
"Einfach ausprobieren", meinte Telsek. "Oder seid ihr nur wegen der Beute hier?"
Sie begannen im Feuerraum. Vorsichtig ließ Dryan die Feuermünze in das immer noch brennende Feuer fallen, das sofort verlosch. Langsam und kratzend begannen sich die Wände wieder zu schließen. Deshalb also …
Der Elf stürzte in den nächsten Raum, deponierte die nächste Münze. Das lauter werdende Knirschen trieb ihn an, trotzdem hoffte er, daß die beiden anderen nicht so dumm sein würden zu versuchen, den Fels irgendwie aufzuhalten. Noch ein Podest, noch eine Münze. Die letzte Münze fiel ihm aus der Hand, als er sich gerade durch den Spalt in der Wand gezwängt hatte. Nicht noch einmal von vorn. Es waren nur zwei Wassermünzen in dem Beutel gewesen, und wenn das Ganze nicht so funktionierte wie sie es sich vorgestellt hatten, hatten sie auf die Schnelle keine Möglichkeit, neue Münzen zu beschaffen.
Dryan bückte sich, rutschte auch noch aus, fluchte und warf die Münze in hohem Bogen in den Kegel. Der Luftwirbel verstummte. Die Podeste und die Wände sahen wieder aus wie vorher.
"Bist du in Ordnung?" erklang Wills Stimme aus dem östlichen Gang. "Komm schnell her."
Der Elf brauchte nicht lange, um sich aufzuraffen und seine Robe zu sortieren. Er rannte in die Richtung, aus der er die Stimme des Obsidianers gehört hatte.
Will und Telsek standen angriffsbereit vor einem steinernen Portal, das hinter einem Wandstück in der Mitte des bisher so leeren östlichen Ganges erschienen war und bis zu dessen Decke reichte. Der Steinmetz, der den grauen Fels verziert hatte, war entweder nicht sonderlich begabt oder er hatte es sehr eilig gehabt. Ein paar grobe Symbole der Wahren Elemente waren zwischen Totenschädeln aller Namensgeberrassen in die Türflügel geritzt.
"Noch einmal Münzen?", fragte Dryan seufzend.
"Nein, aber ich denke, wir sollten uns vorbereiten", erwiderte Will kalt.
Telsek griff nach der Axt und nickte den Zauberkundigen mit funkelnden Augen zu.
Kurz darauf berührte der Obsidianer murmelnd die Symbole. Lautlos schwangen die mächtigen Flügel auf ihn zu.

Hinter dem Portal lag ein hell erleuchteter Raum, dessen Wände mit obskuren Geräten behängt waren. Rechterhand zog sich ein flaches Regal die ganze Breite des Raumes entlang, gut gefüllt mit Büchern, Schriftrollen und geheimnisvollen Gefäßen, die Dryan zu gern untersuchen würde, wenn er Zeit hätte. Aber die hatte er nicht. Die Tür gegenüber, die letzte Tür …
Telsek war nach einem kurzen Blinzeln wegen des grellen Lichtes der vielen Leuchtquarze, die an Ketten von der Decke hingen, sofort schnaubend nach links gestürmt. Ein vom Boden bis zu Decke reichendes Gitter trennte einen Teil des Raums ab und dahinter war ein ausgemergelter, unbekleideter Mann an die Wand gekettet, ein Mann, den sie kannten.
Ein Schlag mit Lorms Axt genügte, um das primitive Vorhängeschloß zu zerstören. Doch Takaris hob nicht einmal den Kopf, als Will und Telsek die Zelle betraten.
Der Troll zerschlug vorsichtig, aber rasch die Ringe, die die Ketten hielten, den Mund so fest zusammengepreßt, daß sich seine Hauer in die Lippen bohrten. Er schien es nicht zu bemerken.
Langsam rutschte der Blutwächter an der rauhen Wand nach unten.
"Wir haben nach Euch gesucht", sagte Dryan und bemühte sich, aufmunternd zu klingen.
Der Blutelf starrte sie aus blutunterlaufenen leeren Augen an.
"Welches Holz?" fragte er leise.
Ohne auf die Dornen zu achten, die sich sogar durch seine Haut bohrten, zerrte Will den blonden Mann hoch.
"Takaris!" brüllte er. "Wacht auf!"
"Was für ein Holz?" flüsterte Takaris wieder.
"Er ist wahnsinnig", sagte Telsek düster. "Keine Ahnung, was man mit einem Blutelf anstellen muß, um ihn so weit zu kriegen. Aber jemand wird dafür büßen."
Der Obsidianer ließ den willenlosen Takaris sanft zu Boden sinken und griff nach dem Schwert.
"Du hast recht, Telsek", erwiderte er. "Die Tür …"
In diesem Moment öffnete sich die letzte Tür.
"Ah, Ihr seid gerade rechtzeitig gekommen", erklang eine tiefe und ein wenig knarrende Stimme, die trotzdem auf eine gewisse Art überzeugend wirkte.
Dryan dachte für einen Moment an einen bestimmten theranischen Politiker, der … Aber der Mann, der aus der Tür trat, sah nicht sehr theranisch aus. Dem Menschen fehlte die fast künstlich wirkende Symmetrie der theranischen Gesichtszüge, auch wenn er nicht unansehnlich war. Wenn seine hellbraunen Augen nicht so kalt sein würden - und der weiter leise vor sich hin murmelnde Blutelf nicht in seinen Ketten liegen würde - wäre Dolmos vielleicht sogar ein Mensch gewesen, dem man auf dem ersten Blick vertrauen mochte.
Aber nicht mehr auf den zweiten. Die Robe des Mannes war schwarz und mit Elementarsymbolen und Totenschädeln bestickt. Also auch noch Geisterbeschwörer - darauf hätte er eigentlich schon vor dem Portal kommen müssen.
"Ich würde Euch gern zu einer Tasse Tee einladen und Euch vom Abschluß meiner Forschungen erzählen", fuhr Dolmos lächelnd fort. "Ich habe lange nicht mit Kollegen …"
Telseks wilder Schrei, ein Tigersprung und ein Schwung der Axt unterbrachen ihn für immer.



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