1. Kapitel


Drachen und Tauben




„Macht doch nicht so eine Hektik!"
Grunzend zog sich Telsek noch einmal die Decke über den Kopf. Will und Dryan hatten schon gefrühstückt und waren dabei, auf der groben Karte die neue Route auszuwählen.
Der Elf ließ nebenbei fallen: „... und durch die Brachen ..."
Die Reaktion des Trolls war wie erwartet.
„Seid ihr wahnsinnig!" brüllte er und sprang auf.
Grinsend fuhr Dryan fort: „... werden wir nicht kommen. Das liegt ja auch gar nicht am Weg."
Will schmunzelte ebenfalls. Es gab doch immer wieder eine Möglichkeit, den Krieger auf die Beine zu bringen, selbst wenn die Gruppe, wie jetzt, keinen Auftrag zu erfüllen hatte. Endlich gesellte sich Telsek, einen Kanten Brot kauend und immer noch grummelnd, zu seinen Gefährten.
„Nach Parlainth, da waren wir uns ja einig."
Dryan wurde wieder ernst.
„Den Weg kennen wir, aber ich würde mich diesmal lieber etwas dichter an den Bergen halten. Vielleicht können wir ein paar weiße Flecken auf der Karte loswerden."
Er zeigte auf den roten Punkt westlich von ihrem jetzigen Standpunkt, der den Mittland-Handelsposten markierte.
„Auf halber Strecke können wir dann ruhig ein paar Tage Rast einlegen und richtig ausschlafen."
Der Seitenblick zu Telsek sprach Bände.
„Oder hat jemand etwas anderes vor? Dämonenfangen in den Brachen?"
„Paß auf deine Ohren auf," antwortete Telsek, seine Stimme war leise, ernst und drohend.
Will sah sich erstaunt zu seinem Freund um. Sie hatten sich in den letzten Wochen und Monaten immer wieder geneckt und auch schon ernsthafte Streitigkeiten gehabt, aber so gefährlich hatte der Troll noch nie geklungen, wenn er mit seinen Gefährten gesprochen hatte. Erst jetzt wurde dem Obsidianer bewußt, daß sie eigentlich fast nichts über die Vergangenheit des Kriegers wußten. Er hatte Frau und Kinder in den Drachenbergen zurückgelassen, aber warum er seine Familie und seinen Clan verlassen hatte, hat er ihnen nie erzählt.
Seine Heimat lag nicht weit entfernt von den Brachen ... Und dazu die fehlenden Hörner wie bei einem ausgestoßenen Krieger, für die Telsek ebenfalls keine Erklärung abgegeben hatte ... Hatte er etwas Schreckliches in den Brachen erlebt?
Ehe Dryan weiterreden konnte, legte ihm Will die Hand auf den Arm und bedeutete ihm zu schweigen. Der Elf blickte von der Karte auf und sah das Gesicht des Trolls, das wie versteinert wirkte. Er nickte und schien zu verstehen, was der Elementarist meinte.
„Es tut mir leid, mein Freund."
Dryan streckte Telsek die Hand entgegen. Der griff zu und drückte so fest, daß der Elf nur mühsam ein Stöhnen unterdrücken konnte, als seine langen feingliedrigen Finger in der grauen Pranke des Trolls verschwanden.
„Ist schon gut", antwortete Telsek und lächelte, als er sah, wie seinem Freund der Schweiß auf die Stirn trat.
Dann ließ er los und beugte sich, als sei nichts geschehen, über die Karte.
„Der Handelsposten - wie lange habt ihr das letzte Mal Garantie gegeben?"
Diesen Seitenhieb konnte sich Telsek nicht verkneifen, wohl wissend, daß Will und Dryan die Schäden nach ihrer Auseinandersetzung mit den Banditen zwar magisch behoben, aber der Wirtin nicht gesagt hatten, daß der Zauber nur ein halbes Jahr wirkte. Aber darüber machten sich die Gefährten eigentlich weniger Sorgen.
Der Weg von Parlainth bis zum Blutwald wurde nicht allzu oft benutzt, so daß nur selten Überfälle von Orkbrennern zu erwarten waren und wenn, dann nur von kleineren Banden; es lohnte sich einfach nicht, wochenlang auf Beute zu warten. Der kleine Ort, den sein Gründer großspurig „Mittlands-Handelsposten" genannt hatte (und den er bald darauf frustriert aufgab), war nur eine mittlere Kreuzung, an der sich Pfade aus den Dörfern der Umgebung trafen und vor allem von weniger wichtigen Händlern, Abenteurern und Banditen besucht wurde. Das hieß allerdings auch, daß die Freunde auf der etwa dreiwöchigen Reise, die vor ihnen lag, auf alles mögliche Unerwartete treffen konnten, auch wenn sie die Strecke bereits zweimal ohne allzu große Probleme zurückgelegt hatten.
Weder Telsek noch Will hatten etwas gegen den Vorschlag des Magiers einzuwenden, sich abseits der alten und fast vergessenen Handelsstraße zu halten und ein paar Informationen über die Umgebung zu sammeln. Es gab Orte, wo man für Wissen gutes Geld oder andere Informationen bot.
So machten sich die drei nur wenig später auf den Weg, plaudernd und schlendernd, als wären sie auf einem Nachmittagsspaziergang. Der Tag versprach, sonnig zu bleiben, und sie hatten es nicht eilig. Außerdem spürten die Gefährten immer noch die Strapazen ihrer Auseinandersetzung mit Duaga in den Knochen, auch wenn die Wunden geheilt waren.

Gegen Abend waren sie noch immer unter den südlichen Hängen der Scytha-Berge und schlugen ihr Lager unter einem Felsvorsprung auf. Nach einem gemütlichen Abendessen waren die drei bald tief und fest eingeschlafen.
Es mußte kurz nach Mitternacht sein, als ein Heulen sie aus dem Schlaf riß. Viel zu nah ...
Die Gefährten sprangen auf und griffen nach den Waffen.
Will stieß einen kurzen Fluch aus. Was hatte sie nur geritten, keine Wachen aufzustellen! Er rief die Flamme an der Spitze von Kegels Schwert, damit er einen Blick auf ihre Angreifer werfen konnte, aber es war schon zu spät für eine angemessene Reaktion. Ein paar lederartige Flughäute klatschten und lange Krallen fuhren durch das Gesicht des Obsidianers. Zu schnell war der Gargyl aus dem Lichtkreis der Flamme verschwunden.
Ein Schmerzensschrei zu seiner Linken verriet, daß auch Telsek den Angreifer nicht hatte kommen sehen und von den langen Klauen verletzt worden war. Der Troll hatte keine Chance, da die Gargylen keine Wärme ausstrahlten, die er hätte wahrnehmen können.
Nur die Nachtaugen Dryans waren in der Lage, in der nur von einigen Sternen durchbrochenen Dunkelheit wenigstens die Umrisse der Gargylen zu erkennen. Es waren nur zwei Gegner und der Elf konnte dem Angriffsflug des einen, der den Troll erwischt hatte, ausweichen. Er sandte einen Flammenblitz hinterher, der die Flughäute des Gargyls getroffen zu haben schien, dem verzweifelten Kreischen und dem folgenden Aufprall nach zu urteilen.
Der kurze Lichtblitz und die Flamme des Schwertes reichten den beiden anderen Gefährten, den zweiten Angreifer im Anflug zu erkennen. Nahezu gleichzeitig trafen Lorms Axt und Kegels Schwert den Gargyl von beiden Seiten in den Hals, ein dumpfes Klingen beim Aufprall erzeugend. Das Steinwesen stürzte tödlich verletzt zu Boden.
Dann herrschte wieder Stille. Keiner der Freunde sagte etwas, für den Fehler waren sie alle verantwortlich. Schließlich fachte Dryan das Feuer wieder an und nahm den Lichtquarz aus seinem Bündel, um nach dem zweiten Gargyl zu sehen, der hinter einer Bodenwelle abgestürzt war. Telsek und Will kümmerten sich gegenseitig um die tiefen Risse, die die Krallen im Gesicht und auf den Armen hinterlassen hatten. Dann setzten sie sich, immer noch schweigend, an das Feuer und warteten auf den Magier.
Dryan kam wieder und warf zwei lange graue Hörner in den Lichtschein des Feuers.
„Der hat sich beim Absturz das Genick gebrochen. Schade, daß wir kein Haus mit Kamin haben", sagte er. „Unsere Trophäen würden sich gut darüber machen und an langen Winterabenden können wir vor allen Verwandten angeben."
„Prima Geschichte zum Angeben."
Die Mundwinkel des Trolls zuckten bei der Vorstellung.
„Die drei großen Abenteurer und die vergessene Nachtwache. Und du erzählst das meiner Schwiegermutter."
Telsek hob den Blick vom Feuer zu Dryan, der allerdings auch schon schmunzelte.
Will stand langsam auf und streckte sich.
„Ich hole noch die Hörner von dem anderen. Und dann nimmt jeder eins und wir verkaufen das vierte - schon damit ich mir irgendwann einen eigenen Kamin leisten kann und wir uns nicht gegenseitig unsere Heldentaten erzählen müssen, wenn wir uns zur Ruhe setzen."

Der Rest der Nacht verlief trotz oder wegen der Wachen ruhig. Kurz nach Sonnenaufgang machten sich Will und Dryan daran, die Überreste der Steinwesen zu verscharren und nach ihrem Nest zu suchen, das normalerweise Spuren von elementarer Erde enthielt. Das Gargylpaar hatte augenscheinlich in der Nähe gehaust und versucht, die Eindringlinge aus ihrem Revier zu vertreiben. Telsek drehte sich währenddessen noch einmal unter seiner Decke um.
Als die Zauberkundigen nach etwa einer Stunde zurückkehrten, hatte der Troll allerdings schon ihre Bündel gepackt und Tee zum Frühstück gekocht.
„Na, habt ihr Erfolg gehabt?" begrüßte er seine Freunde.
Will hielt ihm eine Handvoll feinen leuchtenden Staubes hin.
„Ich weiß noch nicht, wieviel das wert ist", antwortete er. „Aber ich habe noch nie so viel Wahre Erde auf einmal gesehen." Vorsichtig ließ er den Staub in ein feingewebtes Leinenbeutelchen rieseln, das mit Orichalkumfäden durchwebt war.
„Vielleicht können wir ja auch selbst etwas damit anfangen", sagte Dryan mit leuchtenden Augen. „Ich habe ein wenig darüber gelesen und wenn ich mich doch noch einmal mit Alchimie befasse ..."
„Abwarten", erwiderte Will und setzte sich. „Ich denke, das ist zu wertvoll, um damit herumzuexperimentieren und hier draußen gibt es niemanden, der uns etwas beibringen kann."
Er nahm sich einen Becher Tee und hielt ein Stück des trockenen Brotes an einem Stock ins Feuer.
Telsek zuckte die Schultern. Ihm war es egal, was die beiden Geheimniskrämer mit dem leuchtenden Staub anfingen, aber ein Drittel des Wertes stand ihm auf jeden Fall zu - und er würde es sich in Silber auszahlen lassen. Zum Glück waren sein Gefährten ehrliche Namensgeber.

Die nächsten sieben Tage lang verlief ihre Wanderung ruhig und fast eintönig. Einmal begegneten sie einer Bande von Orkbrennern, die jedoch zu fünft und ohne Reittiere nicht einmal den Versuch machten, die Gefährten zu überfallen.
Ein kleiner Schwarm Krilwürmer fiel in einer Nacht über sie her, stellte aber ebenfalls kein Problem dar. Telsek sammelte nach der kurzen Auseinandersetzung alle noch lebenden Exemplare des geflügelten Ungeziefers ein, stopfte sie in einen Sack und trug ihn an einem kräftigen Stock über der Schulter. Bei jeder Rast fütterte er die übelriechenden Würmer mit etwas Abfall und erklärte seinen angewiderten Gefährten, daß er die Tiere an einen Geisterbeschwörer verkaufen wolle.
Dryan und Will ließen ihm seinen Willen, hielten jedoch einen größeren Abstand von dem zappelnden Sack ein.
Eines allerdings geschah auf der Reise nicht mehr - daß sie keine Wachen aufstellten.

Am späten Nachmittag des achten Tages kam endlich der Mittland-Handelsposten in Sicht. Seit ihrem letzten Besuch schien sich kaum etwas verändert zu haben, nur eine neue Hütte war neben der Pension aufgebaut worden.
Beim Näherkommen vernahmen die Gefährten den üblichen Lärm. Eine Gruppe Orksöldner war gerade eingetroffen und verhandelte mit Orias Schmettereisen lautstark über die Preise für die Unterbringung ihrer Tundrabestien. Die Diskussion amüsierte die Gefährten - der Schmied würde so lange feilschen, bis die Orks einen höheren Preis als sein erstes Angebot bezahlen und dabei noch das Gefühl haben würden, einen guten Schnitt gemacht zu haben. Mit einem Zwerg erfolgreich zu feilschen war eben eine Kunst für sich. Ein paar der Wachleute von Gurt, dem derzeitigen Besitzer des Handelspostens, standen am Gatter und schlossen Wetten über das Abschneiden der Orks ab.
Die Freunde beschlossen, diesmal doch in der Pension abzusteigen, auch wenn die Zimmer teurer als im Gasthaus waren. Aber einmal wieder ein richtiges heißes Bad zu nehmen ...
Will und Dryan nahmen das Gepäck der Gruppe und gingen zu Flizz, dem Windling, um die Zimmer zu bestellen, während sich Telsek im Gasthaus um einen Tisch und das Abendessen kümmerte. Der Troll hatte eine einfach unnachahmliche Art, sich in Tavernen breit neben einen Tisch zu stellen, die Hand auf die Axt zu legen und vielsagend auf die Sitzenden hinunter zu blicken. Er sagte dabei nie ein Wort, doch innerhalb von wenigen Minuten war der Tisch im allgemeinen frei. Allerdings mußte man Telsek zugute halten, daß er sich immer Tische aussuchte, an denen die Gäste schon mit dem Essen fertig waren.
Das schien auch diesmal funktioniert zu haben. Als die Zauberkundigen aus der Pension kamen und das überfüllte Gasthaus betraten, saß Telsek an einem kleinen Ecktisch, neben sich zwei freie Hocker. Die Trollin Beinbrecher, die das Gasthaus führte, nahm gerade seine Bestellung auf. Will und Dryan setzten sich und Beinbrecher sah sie mit hochgezogenen Brauen an.
„Gut, daß ihr heute nicht bei mir übernachtet. Da sind die Chancen für das Mobiliar besser", grummelte sie. „Euer Freund hat das Tagesmenü bestellt - ich hoffe, das geht klar."
Damit rauschte sie davon.
Telsek zuckte mit den Schultern.
„Ich habe ihr erklärt, daß wir diesmal nicht verfolgt werden. Sie hat mir nicht geglaubt - aber im Moment ist auch viel los hier." Er wies in den niedrigen verräucherten Raum.
Am Nebentisch saßen ein paar Menschen und Zwerge, die aussahen, als kämen sie aus einem Dorf in der Umgebung. Sie trugen allerdings für Bauern ein wenig zu viel Waffen - einfache, aber handfeste Schwerter und Äxte. Die Dörfler wirkten nervös und übermüdet. Ihr Sprecher, ein massiver Mann, der wie ein Schmied aussah, verhandelte gerade leise mit einen jungen Mann in einer über und über mit Nieten bedeckten Lederrüstung. Leider war von dem Gespräch nichts zu verstehen, doch der Schmied wirkte ärgerlich und verzweifelt. Telsek beobachtete den jungen Mann und verspürte plötzlich das Bedürfnis, ihm ins Gesicht zu schlagen - so arrogant und aufgeblasen sah er aus.
An einer langen Tafel etwas weiter entfernt unterhielt sich ein Dutzend T'skrang. Die Gruppe sah aus wie die Handelsdelegation eines höheren Hauses, aber auf die Entfernung und im dämmrigen Licht waren die Abzeichen auf ihrer vornehmen Kleidung nicht zu erkennen. Beinbrecher hatte wohl extra für die T'skrang eine Bedienung abgestellt; eine junge Orkin lief ständig hin und her und brachte verschiedenste Speisen und Getränke.
Dazu kamen noch die Orksöldner, die immer wieder lautstark nach Hurlg verlangten und den Eindruck erweckten, als wären sie auf Ärger aus. Wahrscheinlich hatten sie inzwischen doch bemerkt, wieviel Silber ihnen Orias aus der Tasche geredet hatte.
Ansonsten war das übliche Publikum da, ein Händler mit den drei Wachleuten seiner Karawane, ein paar junge Leute auf Abenteuersuche, einige Diebe und die Bewohner des Handelspostens. „Richtig gemütlich", bemerkte Will, dann griff er blitzschnell zu und zog einen Windling am Flügel auf den Tisch.
„Was machst du an meiner Tasche, junge Dame?", fragte er.
„Äh, nichts", antwortete die Taschendiebin zerknirscht und wand sich, konnte sich aber nicht aus dem Griff der riesigen Hand des Obsidianers befreien.
Will machte ein finsteres Gesicht.
„Wenn du dich noch einmal in der Nähe sehen läßt, tauche ich dir die Flügel ins Bier", drohte er und ließ los.
Das Windlingsmädchen stemmte die Hände in die Hüften und setzte zu einer Erwiderung an, aber in diesem Augenblick erschien Beinbrecher mit einem Tablett, auf dem eine Schüssel Suppe, ein großer Teller mit Brot und Fleisch sowie zwei Krüge Bier und ein Becher Tee standen. Ein finsterer Blick der Trollin genügte und die Kleine schwirrte schleunigst ab.
„Ich hoffe, Nada hat euch nicht belästigt", sagte die Wirtin und stellte das Tablett ab.
Will schüttelte lächelnd den Kopf.
„Wir kommen schon klar", erwiderte er. „Danke, daß du uns so schnell bedient hast. Du bist eine wirklich gute Wirtin."
Der Anflug eines Lächelns zog über das Gesicht der großen Frau.
„Schmeichler", knurrte sie etwas freundlicher. „Wenn ihr Jungs wirklich etwas Gutes tun wollt, sprecht mit den Leuten aus Dreihügel. Die haben ein echtes Problem."
Sie wies mit dem Kinn auf den Nachbartisch.
Der junge Mann war inzwischen verschwunden und die Dörfler redeten leise und aufgeregt miteinander. Es schien, als würden sie dem Schmied Vorwürfe machen.
Dryan seufzte. Eigentlich wollten sie doch nur endlich in Ruhe etwas Richtiges essen ... Dann sah er, wie fettig die Suppe und das Fleisch aussahen, griff sich seinen Teebecher und ging zum Nachbartisch. Die Männer unterbrachen ihr Gespräch und sahen zu dem Elfen auf, Mißtrauen im Blick.
„Entschuldigt bitte die Störung."
Der Elf neigte den Kopf.
„Beinbrecher sagte uns, daß Ihr ein Problem hättet. Vielleicht können wir Euch behilflich sein."
In das Mißtrauen schlich sich eine Spur von Hoffnung. Der Schmied schob den Hocker, auf dem der junge Angeber gesessen hatte, in Dryans Richtung. Der Elf setzte sich, elegant eine Verbeugung andeutend. In diesem Moment sah er, wie die Hoffnung wieder erlosch. In den Augen der Bauern wirkte er zu vornehm, um sich wirklich für sie zu interessieren, zumal seine Kleidung trotz der langen Reise immer noch edel und gepflegt war - keine Kunst wegen des eingewebten Reparaturzaubers.
Hier wäre wohl Telsek besser für Verhandlungen geeignet, dachte Dryan. Seine Herkunft konnte er einfach nicht verleugnen. Aber jetzt saß er schon einmal hier ... Er stellte seinen Becher auf den Tisch und lächelte den Männern aufmunternd zu.
Der Schmied räusperte sich mehrfach und fühlte sich offensichtlich nicht ganz wohl in seiner Haut.
„Äh, edler Herr ...", begann er mit kratziger Stimme.
Dann fing er sich und sprach mit dem Mut der Verzweiflung weiter, so schnell, als hätte er Angst, der Elf könnte verschwinden, bevor er mit seiner Rede fertig war.
„Ich bin Anado, Schmied aus Dreihügel, einen Tagesritt südlich von hier. Das sind Frilas, Tham und Kemele. Seit ein paar Wochen bedroht uns ein Monster - oder mehrere; wir haben es noch nicht gesehen und die wenigen Spuren konnten wir bisher nicht deuten. Es geht das Gerücht, daß ein Drache in der Nähe ist. Drei Leute aus dem Dorf werden vermißt und die Leiche eines Jungen fanden wir übel zugerichtet auf einem Feld. Inzwischen traut sich kaum noch jemand auf die Felder und Weiden zu Arbeit, und wenn wir nicht die Ernte einbringen können und die Tiere kein Futter mehr haben ..."
Er stockte. Der Zwerg Frilas, der neben ihm saß, gab dem Schmied einen Stoß mit dem Ellenbogen.
„Jedenfalls hat die Dorfälteste Valin uns hierher gesandt, um ein paar mutige Kämpfer zu finden, die uns helfen. Aber bisher hatten wir keinen Erfolg."
Anado legte einen kleinen Lederbeutel auf den Tisch und senkte den Kopf.
„Wir können nicht viel bieten - alles in allem fast dreihundert Silberstücke, zum Teil in Schmuck. Die Vereinigung der schnellen Schwerter hat schon abgelehnt - ihr habt vielleicht den jungen Schwertmeister vorhin an unserem Tisch gesehen."
Anado verfiel in Schweigen.
Dryan nickte. 'Vereinigung der schnellen Schwerter' - ganz schön hochtrabend für die Bande von jugendlichen Taugenichtsen, die an an der Theke hockte und großspurige Reden führte. Der junge Mensch, der der Sprecher der Gruppe zu sein schien, brüstete sich gerade vor einer jungen Elfin mit irgendwelchen Abenteuern. Die Sorte kannte Dryan zu gut. Wahrscheinlich waren die meisten erst vor einem halben Jahr aus ihren Dörfern gekommen, auf der Suche nach dem schnellen Geld. Und mit ihren blinkenden, aber wenig schützenden Rüstungen, den polierten und zur Schau gestellten Waffen und einem cleveren Anführer hatten sie sicher schon einiges Silber eingesteckt, ohne etwas dafür zu tun. Egal. Irgendwann würden sie ernsthaften Gegnern über den Weg laufen und danach zu den verschollenen Helden gehören. Oder vielleicht sogar erwachsen werden.
Der Magier wandte sich den Dörflern zu.
„Steckt Euer Geld wieder ein", sagte er.
Anado erstarrte, eine Ablehnung erwartend.
Dryan legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
„Wir werden uns die Sache einmal ansehen. Wenn bei Euch wirklich ein Drache unterwegs ist, können wir nicht viel tun, aber Drachen fallen selten grundlos Namensgeber an und lassen auch dann nicht zerstückelte Leichen liegen. Mit fast allen anderen Monstern werden wir fertig, meistens jedenfalls."
Anado starrte den Elf ungläubig an.
„Ihr wollt wirklich mitkommen? Und ohne Bezahlung? Was werden Eure Freunde ..."
Dryan unterbrach ihn.
„Wir reisen schon lange miteinander und ich weiß, was sie sagen werden. Macht Euch keine Gedanken. Ich wünsche Euch erst einmal eine gute Nacht, bis morgen, ein Stunde nach Sonnenaufgang."
Dryan verneigte sich wieder höflich und kehrte zu seinen Freunden zurück.
Der Krieger grinste wissend und stieß Will an.
„Wetten, daß wir wieder einen Auftrag haben? Und so erschrocken, wie die Leute aussehen, hat Dryan sogar die Belohnung abgelehnt."
Mit einem möglichst freundlich aussehendem Gesicht nickte Telsek zum Nachbartisch. Einer der Zwerge erwiderte den Gruß, die anderen drei Dörfler fanden das grimmige Aussehen des Trolls immer noch erschreckend und zogen die Köpfe ein.
Dann wurde es plötzlich ruhiger im Gastraum. Eine T'skrang hatte begonnen zu singen, und drei ihrer Gefährten begleiteten die getragene Melodie mit Flöten und einem kleinen Tamburin. Die meisten Gäste wußten, daß Beinbrecher Musik liebte, und die es nicht wußten, wie die Vereinigung der schnellen Schwerter, wurden nicht unbedingt sanft von anderen darauf hingewiesen. Bald war kaum noch ein leises Flüstern zu hören und das lange Lied, das von der Sehnsucht nach reißenden Flüssen und tiefen Seen berichtete, erfüllte den niedrigen Raum.
Beifall brandete auf, als die Troubadora endete, und Beinbrecher gab zu allgemeiner Begeisterung eine Saalrunde aus. Dann wandten sich die Gäste wieder dem Essen und Trinken zu.
Will fragte Dryan nach dem neuen Auftrag, der ihm das Problem der Dörfler schilderte, während er das übriggebliebene frische Fladenbrot kaute.
Der Obsidianer wiegte bedenklich den Kopf.
„Es ist richtig, daß du angenommen hast. Und auch, daß du die letzten Ersparnisse der Leute nicht annehmen wolltest. Aber ich wäre nicht so sicher, daß wir Erfolg haben werden. Was, wenn ein Dämon Dreihügel unsicher macht?"
Telsek stimmte ihm zu, gab aber auch gleich seine Meinung zur Kenntnis.
„Vielleicht hast du recht. Aber wir sollten es uns wenigstens mal ansehen. Die Spuren und alles. Dryan hat ja keine Garantie gegeben."
„Ich habe auch nicht gemeint, daß wir es lassen sollen. Ich hätte einfach lieber noch ein paar mehr Informationen."
Damit stand Will auf und ging zum Nachbartisch, um sich mit den Dörflern zu unterhalten.
Auch Telsek verließ den Tisch in Richtung der T'skrang-Delegation. Dryan blieb allein mit den Resten des Tagesmenüs und bestellte sich noch einen Tee und einen großen Teller Gemüse.


Am nächsten Morgen fiel es nicht nur Telsek schwer aufzustehen.
Die Betten in der Pension waren wirklich bequem, aber die Gefährten wollten ihre Verabredung einhalten.
Bei Sonnenaufgang saßen sie im winzigen Speiseraum der Pension und frühstückten. Flizz bot zu den Zimmern nicht nur ein gutes Frühstück an, sondern hatte auch noch ein paar Botschaften für die Freunde.
„Wenn Ihr in Dreihügel Erfolg habt, ist sie Euch nicht mehr böse, läßt Beinbrecher ausrichten", erklärte er, während er den Tee servierte. „Und dann will Euch noch der Mann sprechen, der die Brieftaubenstation nebenan aufgemacht hat. Ist aber nicht so eilig, sagt er. Und auch noch schöne Grüße von K'tira an den Troll und herzlichsten Dank und einen Beutel. Klingt nach einer Menge Silber."
Flizz warf einen kleine lederne Börse zwischen die Teller und flog wieder in die Küche zurück. Will und Dryan warfen Telsek einen verwunderten Blick zu. Der zuckte die breiten Schultern.
„Was denkt ihr schon wieder! Ich hab das Ungeziefer verkauft. Habt ihr nicht gesehen, daß die eine Flötenspielerin auch Beschwörerin ist?"
Telsek schüttete die Börse aus.
„Wenn wir schon sonst nichts einnehmen ..."
Goldmünzen throalischer Prägung und ein paar kleine Smaragde rollten über die Tischdecke. Die Zauberkundigen machten noch größere Augen. Da lag ein kleines Vermögen.
Telsek grinste zufrieden, wie immer mit gefährlich blitzenden Eckzähnen.
„Fünfzig für jeden. In Gold."
Dann verstaute er seinen Anteil wieder in der Börse, sich immer noch diebisch über die Gesichter seiner Freunde freuend.
Dryan und Will steckten den Rest in ihre Geldbeutel und waren endlich in der Lage, den Troll zu loben.
„Du solltest wirklich Tiermeister werden", sagte Dryan. „Die Ekelwürmer so lange am Leben zu halten und dann für den Preis loszuwerden - Kompliment!"
Will schloß sich an.

Eine halbe Stunde später hatten die Gefährten ihre Rucksäcke gepackt und waren bereit zum Aufbruch. Vor Orias' Schmiede trafen sie die vier Dorfbewohner. Anado und die anderen hielten ihre Pferde am Zügel und schienen schon länger auf die Freunde zu warten, versuchten jedoch, ihre Ungeduld nicht zu zeigen. Sie schienen zu überlegen, wie Dryan, Will und Telsek ihnen ohne Pferde oder andere Reittiere folgen wollten und schauten etwas hilflos.
Als dann Dryan einige Scheite vom Holzstapel neben der Schmiede holte und zu einem Lagerfeuer schichtete, das er mit einem Fingerschnippen in Brand setzte, glaubten die Männer, daß die Abenteurer endgültig den Verstand verloren hatten.
Will beruhigte Anado und seine Gefährten.
„Macht Euch keine Sorgen, wir brauchen das Feuer, um unser Transportmittel zu beschwören. Am besten ist es, wenn Ihr ein paar Dutzend Schritte vorausreitet. Vielleicht scheuen die Pferde, wenn wir anfangen zu zaubern oder die Flammenrikschas zu nahe kommen. Gegen Mittag müßten wir dann eine Rast einlegen, um den Zauber zu erneuern; vielleicht kennt Ihr eine Stelle, wo wir etwas Holz finden. Und nun schaut nicht so erschrocken drein. Hat Euch Dryan nicht erzählt, daß wir Zauberkundige sind?"
Anado schüttelte nur den Kopf, es hatte ihm die Sprache verschlagen. Nur Kemele, der junge Zwerg mit dem blonden Bart, streckte sich und sah mit triumphierenden Blick zu seinen Kameraden.
„Ich hab es euch doch gesagt. Mit den Roben und so ... Das sind keine Spinner."
Telsek winkte ab.
„Ich trage jedenfalls keine Robe und bin Krieger. Und jetzt laßt uns aufbrechen."
Die Dörfler bestiegen ihre Pferde und ritten langsam in Richtung Süden voraus. Sie drehten sich neugierig um, als das Feuer aufprasselte und Will zwei Feuergeister beschwor, die die Rikschas ziehen würden. Dryan und Telsek nahmen in einem der flammenumloderten Gefährte Platz, der Obsidianer bestieg das andere und dann folgten sie den Männern nach Dreihügel, wenige Zoll über dem Boden schwebend.

Will sollte recht behalten. Als sich die Rikschas gegen Mittag den Reitern näherten, die am Rand eines kleinen Wäldchens Halt gemacht hatten, scheuten die Pferde. Der Braune von Tham, der zum Glück schon abgestiegen war, brach aus und sie mußten ihn eine Stunde lang suchen. Telsek gelang es, das nervöse Tier zu beruhigen. Die Gefährten beschlossen, etwa hundert Schritt vor dem Dorf die Feuergeister zu entlassen und den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.

Gegen Abend erreichten die drei Dreihügel. Die Reiter, die vor ihnen angekommen waren, hatten die Dorfbewohner auf ihr Kommen vorbereitet, so daß alle zur Begrüßung auf dem Dorfplatz versammelt waren.
Es waren etwa vier Dutzend Menschen, Zwerge, Orks und Trolle, die den Abenteurern erwartungsvoll entgegenblickten. Kemele mußte stark übertrieben haben, was ihre Fähigkeiten anbetraf. Will konnte die Dorfvorsteherin Valin, eine gutaussehende ältere Orkin, nur mit Mühe daran hindern, vor ihnen auf die Knie zu fallen. Die überschwenglichen Danksagungen ließen sich die Leute jedoch nicht nehmen, auch wenn es den dreien offensichtlich unangenehm war.
Nach etwa einer halben Stunde wurde es endlich ruhiger. Die Dörfler zogen sich in ihre Hütten zurück, offensichtlich aus Angst vor der hereinbrechenden Dunkelheit. Anado bot den Gefährten an, bei ihm zu essen und zu übernachten, weil er genug Platz in seiner Hütte hätte. Sein Sohn würde bei einem Freund schlafen und er selbst in der Schmiede. Erst jetzt wurde die Verzweiflung des Schmiedes verständlich - seine Frau gehörte zu den Verschwundenen.
Dryan, Will und Telsek sagten zu. Sie hätten auch in einem Stall oder im Freien übernachten können, aber es schien ihm eine große Freude zu machen.
Vorher jedoch unterhielten sich die Abenteurer im Gemeindehaus mit allen, die etwas über das mysteriöse Monster zu sagen wußten. Mehrere Hirten hatten auf einer Viehweide, von der zwei Rinder verschwunden waren, Spuren von riesigen Füßen mit drei Zehen gefunden. Sie waren nicht sehr abergläubisch, jedoch hatte die Tatsache, daß die Spuren nur auf dem feuchten Boden der Weide zu sehen waren, nicht aber hin oder weg führten, sie so erschreckt, daß sie die restlichen Tiere ins Dorf trieben und im Stall ließen.
Ein Ork brachte es auf den Punkt: „Mit Wölfen oder so werden wir schon fertig. Aber welches Untier kann mit einer Kuh davonfliegen?"
Ein Zwergenmädchen war sich sogar ganz sicher, an einem Abend einen blauen Drachen auf einem der umgebenden Hügel gesehen zu haben. Ihre Eltern allerdings entschuldigten sich bei den Gefährten, daß ihre Tochter schon immer eine blühende Phantasie hatte.
Die zerfetzte Leiche des Jungen war schon beerdigt worden, doch der Heiler des Dorfes, ein Troll namens Priss, berichtete, daß er solche Verletzungen noch nie vorher gesehen hatte.
„Der kleine Tiberra sah aus wie von scharfen Klauen und Zähnen zerfleischt, ganze Stücke waren herausgebissen", erklärte er und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Ein großes Raubtier, was ich nicht kenne, oder aber ...", er stockte, dann senkte er seine Stimme zum Flüstern: „ein Dämon - aber sagt das nicht den anderen, wenn es nicht sicher ist. Es soll keine Panik ausbrechen."
Nach einem kurzen und schweigsamen Abendessen ließ Anado die drei in seiner Hütte allein.
„Was meint ihr?", fragte Will, sah aber vor allem Telsek an, der sich am besten mit Tieren auskannte.
Der Troll machte eine unbestimmte Handbewegung.
„Weiß noch nicht. Ich habe zwar schon eine Idee, aber ich muß mir noch die Spuren ansehen. Gleich morgen früh, in Ordnung?"
Dryan stimmte zu.
„Laßt uns ausruhen und uns alles in Ruhe ansehen, wenn es hell ist. Im Dorf selbst ist bisher noch nichts passiert, wir werden also wahrscheinlich eine ruhige Nacht haben."
Dann versuchte er, es sich im Bett des Schmiedesohnes bequem zu machen, das zu kurz für ihn war. Will und Telsek ging es im Ehebett Anados jedoch auch nicht besser. Aber schließlich schliefen alle drei mehr oder weniger zusammengerollt ein.

Der nächste Tag begann trübe. Telsek war schon in der ersten Dämmerung auf den Beinen, er hatte nicht gut geschlafen und war wütend. Er wollte jetzt möglichst schnell nach den Spuren suchen, bevor der zu erwartende Regen sie zunichte machte.
Nach einem hastigen Frühstück ließen sich die Gefährten den Weg zu den Weiden zeigen, die südwestlich hinter einem der Hügel lagen, die dem Dorf den Namen gegeben hatten. Als sie Dreihügel verließen, jubelten ihnen die Dorfbewohner zu, wagten aber nicht, sie weiter als in Sichtweite der Hütten zu begleiten. Am weitesten kamen Anado und seine drei Freunde mit, die sich dann aber auch mit den besten Wünschen und vielen Entschuldigungen verabschiedeten.
„Ich denke, die vier sind nicht so feige, wie sie von sich selbst glauben", meinte Will, als die breite Gestalt des Schmiedes hinter dem Ausläufer des Hügels verschwand. „Sie befürchten wohl wirklich einen Dämonen oder Drachen und sind trotzdem bis zum Handelsposten geritten. Das müssen wir ihnen hinterher noch einmal klar machen."
Dryan stimmte ihm zu, Telsek war jedoch schon damit beschäftigt, nach Spuren Ausschau zu halten. Die letzte Woche war trocken gewesen, und so hatte er keine Probleme, dem Weg zu folgen, den die Rinder und die Hirten zurückgelegt hatten.
Nach etwa einer Stunde hatten die drei die Weide erreicht, ein großes Stück eingezäunter Wiese zwischen kleinen lichten Gehölzen. Sie kamen gerade rechtzeitig, als die ersten schweren Tropfen aus den tiefhängenden Wolken fielen und kleine Krater in den staubigen Weg schlugen.
Telsek sprang über das Gatter, um nach den Kampfspuren zu sehen, die am hinteren Ende des Zaunes sein sollten. Als seine Freunde, die den längeren Weg durch das Tor der Einzäunung genommen hatten, bei ihm eintrafen, hockte er auf dem zerwühlten Boden und lächelte.
„Wie ich es gedacht habe."
Der Troll zeigte auf einen eingetrockneten, gut sichtbaren Abdruck eines dreizehigen Fußes und legte seinen Unterarm hinein. Der Abdruck war länger.
„Espagras, mindestens zwei. Und besonders große Exemplare."
Will und Dryan waren erleichtert.
Der Obsidianer ließ sogar eines seiner seltenen Lächeln sehen, als er erwiderte: „Ich hatte es gehofft. Mit Drachen und Dämonen wollte ich mich eigentlich nicht schon wieder anlegen. Ich wundere mich nur, daß die Dörfler nicht alleine darauf gekommen sind und eine Jagd veranstaltet haben."
„Sie sind erst vor zehn Jahren aus dem Kaer unter dem nördlichen Hügel gekommen, hat mir Tham erzählt", erklärte der Elf. „Dafür haben sie schon ziemlich viel geschaffen, aber alles kennen sie doch noch nicht. Und einen Espagra kann man schon für einen kleinen Drachen halten, wenn man noch nie einen gesehen hat."
Telsek stand auf und nickte grimmig.
„Laßt uns die Biester suchen und erledigen. Und dann erklären wir Anado und Vanis, wie man sie jagt, wenn wieder welche auftauchen."
Die Stimme des Trolls klang rauh und bedrohlich.
„Was ist mit dir, mein Freund?", fragte Will. „Seit gestern abend bist du, entschuldige bitte, noch unwirscher als sonst."
Der Krieger sah zu Boden, dann flüsterte er: „Der Kleine, den diese Bestien zerstückelt haben - er hätte mein Sohn sein können."
Ohne ein weiteres Wort brachen die Gefährten auf, um in den umliegenden Wäldern nach den großen Flugechsen zu suchen. Mit einer Verbissenheit, die Will und Dryan bei ihm nicht kannten, suchte der Troll nach Spuren der Espagras, ohne eine Pause einzulegen.
Nach zwei Stunden waren sie naß bis auf die Knochen. Sie hatten die Überreste mehrerer Wildtiere gefunden und das Skelett einer der Kühe.
Schließlich hob Telsek vor einem ausgedehnten Gesträuch die Hand. Als er sich zu seinen Freunden umdrehte, war sein graues Gesicht wie erstarrt.
Seine Stimme war eiskalt, als er leise sagte: „Sie sind hier. Ich rieche es. Das Loch da oben ist ihre Einflugschneise. Es geht los."
Dryan hatte schon Angst, daß der Troll einfach losstürmen könnte, aber Telsek wartete beherrscht und geduldig, bis alle Kampf- und Schutzzauber bereit waren. Dann ging er als erster los, vorsichtig und geräuschlos einen Weg durch die Sträucher suchend.
Nach vielleicht fünfzig Schritten hob der Troll wieder die Hand und zeigte wortlos nach vorn. Zwischen dem dichten Laubwerk schimmerte es bläulich. Die Espagras schienen zu schlafen. Ein Windstoß fuhr durch die Zweige und durchdringender Aasgeruch verschlug den Gefährten fast den Atem. Da knackte ein Zweig unter den Füßen des Obsidianers und die Echsen fuhren auf.
Die Gefährten stürmten durch das Gebüsch auf die Espagras zu. Telsek stieß einen durchdringenden Schrei aus und stürzte sich auf die nächste Bestie. Der Kampfeswutzauber verstärkte seinen Zorn und es gelang ihm, mit einem Schlag der schweren Axt den Schuppenpanzer zu durchdringen und den Espagra niederzuschlagen. Bevor sich die Echse wieder aufrappeln konnte, schlug er ihr den Kopf ab.
Dryan und Will konzentrierten sich auf den zweiten Espagra, der versuchte, sich in die Luft zu erheben und von oben auf die Angreifer herabzustoßen. Er war nur einen Schritt über dem Boden, als ein Feuerball seine fast vierzehn Ellen spannenden Flughäute durchschlug und er noch vor dem Auftreffen auf dem Boden von einer Eisbola getroffen wurde.
Will tötete den Espagra endgültig. Der Kampf hatte nur wenige Sekunden gedauert. Der Krieger begann mit einem grimmigen, aber befriedigten Lächeln, die leuchtend blauen Schuppen von der Haut der Echsen zu lösen.
„Bringen eine Menge Geld", meinte er. „Ich zahle euch aus und behalte sie. Vielleicht lasse ich meinem Sohn eine Rüstung daraus machen."
Will und Dryan waren einverstanden. Sie durchsuchten indessen das Lager der Espagras nach den Überresten der vermißten Dorfbewohner. In einem wilden Haufen lagen Knochen von Namensgebern und Tieren vermischt, zum Teil noch mit halbverwesten Fleischfetzen daran. Der Obsidianer bewahrte seine stoische Ruhe beim Stöbern, Dryan war jedoch mehrmals kurz davor, sich zu übergeben. Schließlich hatten sie fünf Skelette und die Reste von Kleidung aus dem Haufen sortiert und auf eine Trage aus Zweigen gebettet. Die beiden Unbekannten würden sicher auch in Dreihügel beerdigt werden können.
Dann hoben die Gefährten eine Grube aus und verscharrten den Rest des grausigen Stapels zusammen mit den Kadavern der Espagras. Im immer noch strömenden Regen machten sie sich auf den Rückweg ins Dorf.

Am Abend des nächsten Tages waren die Freunde wieder im Mittland-Handelsposten. Es hatte Dryan all seine Überredungskunst gekostet, Vanis davon abzuhalten, ihnen das gesamte Vermögen des Dorfes auszuhändigen. Die Dreihügler ließen sich jedoch nicht davon abbringen, ihre Rucksäcke mit Proviant zu füllen, bis sie fast aus den Nähten platzten. Diesmal empfing Beinbrecher sie äußerst freundlich und spendierte ihnen sogar das Abendessen.
Dryan war erstaunt.
„Ich hätte nicht gedacht, daß sich die Gerüchte so schnell verbreiten. Woher wißt Ihr, daß wir in Dreihügel Erfolg hatten?"
Die Trollin strahlte.
„Vielleicht wird das hier doch noch mal ein bedeutender Ort. Wir haben ein neues Nachrichtensystem - Brieftauben. Neben der Pension von Flizz hat so ein verrückter Alter einen Taubenschlag aufgestellt. Aber es scheint zu funktionieren, die Tauben fliegen sogar bis Parlainth und zurück. Die T'skrang, die letztens da waren, fanden das jedenfalls so interessant, daß sie extra vom Schlangenfluß hierhergekommen sind."
Will nickte, als Beinbrecher sich wieder ihren anderen Gästen zuwandte.
„Wir sollten bei dem 'verrückten Alten' ja noch vorbeisehen. Was meint ihr, hat das bis morgen Zeit?"
Seine Gefährten stimmten ihm zu und die drei genossen das Essen, das diesmal das Tagesmenü für ausgewählte Freunde war.

Drei Stunden nach Sonnenaufgang waren die Gefährten bereits wieder unterwegs. Will trieb die Feuergeister der Rikschas zur Eile. Wenn sie nur doch schon früher zur Brieftaubenstation gegangen wären ...
Sie mußten so schnell es ging nach Haven - die Nachricht, die der Alte für sie aufbewahrt hatte, schien dringend zu sein. In hastiger Schrift stand auf ein Stück zerknittertes Papier geschrieben:

Liebe Freunde,
ich hoffe, ich darf Euch so nennen und Ihr erinnert Euch noch an mich.
Ich bedarf dringend Eurer Hilfe hier in Haven. Torgak wird Euch
Näheres erklären.
In Eile
Kron


Adressiert war das Papier an Will, Dryan, Telsek und Dwalin - eine schmerzliche Erinnerung an ihren verstorbenen Freund. Die Begegnung mit Kron in Vivane schien Jahrhunderte her zu sein ...
Der alte Taubenzüchter hatte erklärt, daß vor etwa zwei Wochen ein Reisender aus Haven ein Dutzend solcher Zettel mitgebracht und um Verteilung in ganz Barsaive gebeten hatte. Kron mußte völlig verzweifelt sein, wenn er auf gut Glück Briefe an die Gefährten im ganzen Land verteilen ließ. Und vor allem: Was, bei den Passionen, suchte der Dieb in Haven?



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