3. Kapitel


Eine Begegnung mit der Vergangenheit




Dryan schloß die Augen und ließ sein Bündel von der Schulter rutschen. Wie erstarrt stand er da und bemerkte nicht, daß dem starken Obsidianer die Knie so weich wurden, daß er sich an der Wand abstützen mußte.
„Nicht einmal eine kleine Spur davon, daß er sich hätte zur Wehr setzen können", flüsterte Will.
Dryan konnte nur sprachlos nicken.
Stumm standen die beiden einige Minuten vor dem Portal, dann schlug ihre Trauer langsam in kalte Wut um. Als hätten sie sich verabredet, richteten sich Dryan und Will gleichzeitig auf und sahen sich an. Der eine sah seine Gedanken und Gefühle in den Augen des anderen widergespiegelt. Dryan nahm seinen Rucksack wieder auf und Will bückte sich nach Telseks Sachen. Das Bündel des Trolls hängte er sich selbst über die Schulter, die Axt reichte er dem Elfen. Dann wandten sich beide zu der bedrohlichen Tür, um eine Möglichkeit zu suchen, sie zu öffnen oder aus den Angeln zu sprengen.
Diese Schwierigkeit wurde ihnen abgenommen - wie von Geisterhand bewegt schwangen die Flügel lautlos nach innen und gaben den Blick auf eine ausgedehnte Höhle und eine Armee von grimmigen Zwergenkämpfern frei. Der kurze Moment der Überraschung wurde den Zauberkundigen zum Verhängnis - und machte ihnen klar, weshalb von Telsek keine Kampfspuren hinterlassen worden waren.
Sich am Querbalken der Türöffnung festhaltend schwangen vier Zwerge mit den Füßen voran auf sie herab und stießen sogar Will sofort nieder. Ein paar andere Kämpfer stürmten hinter den Torflügeln hervor, entwaffneten und fesselten die beiden.
Aus der Menge ertönte eine harte und tiefe Stimme: „Knebelt sie! Das sind Zauberer."
Der Befehl wurde unsanft ausgeführt.
Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert. Die Zwerge schleppten ihre Gefangenen in das Kaer hinein und das Tor wurde wieder geschlossen. Will versuchte, seine Fesseln zu sprengen, aber er war wirklich zu gut verschnürt - die geflochtenen Lederseile gruben sich nur tiefer in seine Hand- und Fußgelenke. Erschöpft gab er auf.
Erst in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß ihre Gefangennahme wieder Hoffnung für Telsek bedeutete. Er warf einen Blick zu Dryan, der mit geschlossenen Augen zwischen vier Zwergen baumelte.
Ein schwerer Stiefel hatte ihn offensichtlich ins Gesicht getroffen, seine linke Braue war angeschwollen und begann, sich blau zu färben. Allerdings war sich Will ziemlich sicher, daß es etwas mehr brauchte, um den Elf umzuwerfen; Dryan verstellte sich wahrscheinlich.
Die Zwerge brachten ihre Gefangenen in eines der Gebäude, die auf der rechten Seite der Höhle ein Dorf bildeten. Lichtquarze und große Tongefäße, in den Leuchtmoos wucherte, beleuchteten die unterirdische Welt, deren Wände und Decke sich in ewiger Dämmerung verhüllten. Nur gegenüber des Tores entdeckte Will die kunstvoll angelegten Terrassenbeete, von denen Dryan gesprochen hatte, in hellem Licht liegend.
Will und Dryan wurden in das einzige Haus des Kaers gebracht, das keine Fenster hatte, und auf den Boden gelegt. Die eiserne Tür schlug zu und es war völlig dunkel.
Dann zogen starke Arme erst den Obsidianer, dann den Elf in die Höhe und gleichzeitig ertönte ein Freudenschrei, der Will und Dryan in den Ohren schmerzte - Telsek.
Der Troll löste halb tastend, halb die Umrisse seiner Freunde erkennend die Fesseln. Dann schloß er die beiden in die Arme. Dem Magier blieb dabei fast die Luft weg, aber er konnte Telseks Freude verstehen, also beschwerte er sich nicht. Will dagegen erwiderte die Umarmung ebenso kräftig, so daß die Rippen des Trolls gefährlich knackten.
„Ihr seid die Größten!" jubelte Telsek. „Erst hatte ich Angst, daß ihr mich allein laßt ..."
Er wurde etwas leiser und fuhr fort: „Dann hatte ich es gehofft. Aber zusammen finden wir hier raus."
Nach einer Minute verebbten die Gefühlausbrüche wieder. Die Gefährten setzten sich auf den Boden.
Telsek war der einzige, der wenigstens etwas von seinen Gefährten erkennen konnte.
Keiner hatte schwere Verletzungen davongetragen, allerdings schmerzte Dryan der Kopf. Insgeheim war ganz froh über die Dunkelheit. Er konnte sich die schillernden Farben, die sich auf seiner linken Gesichtshälfte ausbreiteten, lebhaft vorstellen. Und die Kommentare seiner Freunde dazu.
Da niemand Hilfe brauchte und draußen alles ruhig blieb, war es Zeit für eine Lagebesprechung. Telsek begann mit einem kurzen Bericht seines Weges bis zum Kaer.
„Und dann ging alles ganz schnell. Ich denke, ich habe beim Absturz einen Alarm ausgelöst. Dämonenwarnung oder so. Aber bisher hat noch keiner mit mir geredet. Die scheinen Angst vor uns zu haben."
„Da könntest du recht haben", stimmte Will zu. „Dryan hat vorhin schon vermutet, daß die Leute hier noch nichts vom Ende der Plage wissen. Andererseits - die Sache mit dem brüchigen Einstieg an der Oberfläche ist dann schon eigenartig. Vielleicht halten sie uns für Dämonen?"
Der Elf gähnte lautstark.
„Wenn sie uns hätten töten wollen, hätten sie es schon tun können. Ich denke, wir sind erst einmal halbwegs sicher. Und ganz ehrlich - ich bin so müde, daß keinen klaren Gedanken fassen kann."
Auch seine Gefährten spürten jetzt, als sich die Aufregung legte, die Erschöpfung in allen Knochen. Telsek, der in den Stunden vor der Ankunft der Zauberkundigen so nervös war, daß er kein Auge hatte zutun können, brummte mit schwerer Zunge eine Zustimmung und rollte sich in die Reste seines Mantels. Wie Will und Dryan ihn gefunden hatten, konnten sie ihm später erzählen. Das Wichtigste war ja, daß sie ihn gefunden hatten. Mit diesem Gedanken begann er leise zu schnarchen.
Dryan schlief ebenfalls schon fast, nur Will hätte lieber noch wenigstens den Ansatz eines Fluchtplanes mit seinen Gefährten besprochen. Er beschloß, wach zu bleiben und noch ein wenig nachzudenken.
Kurz darauf hatte er eine großartige Idee.

Als Will erwachte, weil Licht auf sein Gesicht fiel, war die Idee verschwunden. Alle Glieder schmerzten ihn, allerdings nicht vom Liegen auf dem hartem Boden. Er merkte, daß er langsam steif wurde. Sie mußten bald eine Möglichkeit finden, hier zu verschwinden.
Der Obsidianer drehte den Kopf mühevoll in Richtung der offenen Tür. Dryan hatte sich bereits aufgesetzt und versuchte, sich an die Helligkeit zu gewöhnen, wogegen Telsek seine üblichen Probleme mit dem Wachwerden hatte.
In der Tür stand ein Zwergenfrau, die einen großen Lichtquarz auf einem Stab trug und abwartend auf die Gefangenen herabsah.
Sie war eine beeindruckende Gestalt. Für eine Zwergin war sie sehr groß. Ihr Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt, ernst und hart und grau. Dryan hütete sich, eine Vermutung über ihr Alter anzustellen. Ihre Haut war glatt, die Haltung aufrecht und kraftvoll. Sie sah so aus, als könnte sie sich jederzeit mit der Geschmeidigkeit eines Crojen gegen einen versuchten Angriff der Gefährten zur Wehr setzen. Die strengen Linien um Mund und Augen, die im hellen Licht noch tiefer aussahen, konnten von Sorgen stammen, ebenso das Grau des streng zurückgekämmten Haars. Ihre Augen allerdings schienen Jahrhunderte gesehen zu haben, Jahrhunderte voller Leid.
Will fiel ein, daß er diesen Blick von Namensgebern kannte, die die Plage noch erlebt hatten.
Als sich auch Telsek stöhnend aufgerichtet hatte, richtete die Zwergin das Wort an die Gefährten: „Mein Name ist Kaliya, ich bin die Anführerin der Bewohner dieses Kaers. Ich habe keine Anzeichen von Dämonen oder Dämonenverseuchung feststellen können - aber das muß nichts heißen. Mir ist nicht klar, wie Ihr hier eindringen konntet. In zwei Stunden habt Ihr die Gelegenheit vor dem Kaer-Gericht auszusagen. Und ich rate Euch, laßt Euch eine gute Begründung für Euren Überfall einfallen!"
Damit drehte sich Kaliya um und verließ die Zelle. Zwei Zwerge, die sie begleitet hatten, stellten einen kleinen Lichtquarz und ein Korb mit Lebensmitteln neben der Tür ab, die sie schnell hinter sich schlossen. Sie schienen sehr darauf bedacht zu sein, die Gefährten weder anzusehen noch in ihre Nähe zu kommen. Nur kurz warf einer ihnen einen haßerfüllten Blick zu.
Will erhob sich langsam und holte die Sachen heran. Dann setzte er sich wieder zu Dryan, der immer noch etwas irritiert wirkte. Eigentlich hatte er etwas sagen wollen, aber die Ausstrahlung der Zwergenfrau war so zwingend gewesen, daß es ausgerechnet ihm wirklich die Sprache verschlagen hatte.
Telsek stöberte im Korb, während Will sich mit Strecken und Dehnen aufzulockern versuchte.
„Nicht schlecht für Gefängniskost", stellte der Troll fest. „Frisches Brot, Obst und sogar etwas kaltes Fleisch. Mögt ihr gebratene Fledermaus?"
Telsek freute sich diebisch über den Gesichtsausdruck seiner Gefährten. Dann wurde er wieder ernst.
„Diese Kaliya - sie wollte uns warnen, nicht drohen", äußerte er seinen Eindruck. „Die Zwerge hier haben Angst vor Dämonen, soviel ist klar. Aber die Frau ..."
Telsek zuckte die Schultern. Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden.
Dryan sprang in die Bresche.
„Ich habe das Gefühl, daß sie hofft, daß wir nichts mit Dämonen zu tun haben, aber es gleichzeitig annimmt. Und es scheint, als würde Kaliya es eher bedauern als sich zu fürchten."
Er sah zu Will, der sich eine unbekannte Frucht genommen hatte und vorsichtig hineinbiß.
Der Obsidianer nickte.
Dann ergänzte er: „Wir sollten die Gerichtsverhandlung benutzen, um den Zwergen zu erklären, daß sich die Zeiten geändert haben und sie endlich heraus kommen können. Ich denke, darauf warten sie schon zu lange."
Dryan stimmte lächelnd zu.
„Das heißt also, wir erzählen einfach die Wahrheit. Und jetzt gib mir den Korb rüber, sonst bekomme ich gar nichts mehr ab."

Es wurde ein Fiasko. Fast eine Stunde lang redete Dryan vor dem zwölfköpfigen Rat des Kaers, der ihm aufmerksam zuhörte. Anfangs war es den dreien etwas unangenehm, in dem hell erleuchteten Gerichtssaal auf einem Podest zu stehen, während die Zwerge verschiedenen Alters mit verschränkten Armen und verschlossenen Gesichtern vor ihnen saßen wie Publikum in einem Theater. Selbstverständlich schoben Will und Telsek den Elf nach vorn, als der ehrwürdige Gerichtsälteste sie aufforderte, sich wegen des gewaltsamen Eindringens in das Kaer Simolda zu rechtfertigen. Und Dryan sprach mit Engelszungen.
Er schilderte ausführlich Telseks Unfall und die Suche in den Höhlen und Stollen, berichtete kurz von den Abenteuern, die sie bis hierher geführt hatte und gab eine Zusammenfassung des jetzigen Lebens in Barsaive. Er gab sich wirklich Mühe und die Zwerge lauschten mit ungeteiltem Interesse.
Doch als Dryan seinen Vortrag beendet hatte, nickten sich die Ratsmitglieder nur kurz zu, dann erhob sich der älteste Richter, strich sich über den schneeweißen Bart und verkündete das Urteil: Lebenslange Haft und Arbeit in den Minen, letzteres unter verschärften Bedingungen wegen Mißachtung des Gerichts.
Während die Gefährten nach Luft rangen, fügte er alte Zwerg noch hinzu: „Falls sich Eure Befleckung noch anders äußert als in dem Erzählen solch haarsträubender Lügen, kann jederzeit Eure Hinrichtung verfügt werden."
Damit drehte er sich um und verließ den Saal, gefolgt von den übrigen Ratsmitgliedern. Kaliya warf den Freunden beim Vorbeigehen noch einen Blick zu, in dem sich Enttäuschung und Bedauern mischten. Dann führten ein paar schwerbewaffnete Wächter die drei zurück in ihre Zelle.
Dryan setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden, kaum zu Kenntnis nehmend, daß jemand inzwischen zusammengerollte Matten in eine Ecke des Raumes gelegt hatte. Sein Verstand arbeitete fieberhaft - es mußte eine Möglichkeit geben ...
Statuenhaft stand Will neben ihm, ebenfalls tief in Gedanken versunken und spürend, wie sich die Erstarrung langsam in ihm ausbreitete.
Nur Telsek zeigte seine Wut und sein Unverständnis über das Urteil offen. Mit langen Schritten umkreiste er seine Freunde wie ein Raubtier im Käfig, leise vor sich hinmurmelnd. Schließlich blieb er stehen und hieb mit beiden Fäusten gegen die Wand.
„Sind die den alle besessen? Die können uns doch nicht hier einsperren! Was ..."
Wieder schlug er so hart gegen die Mauer, daß Blutflecke auf den Steinen zurückblieben.
„Beruhige dich," sagte Dryan. „Mit den Fäusten kommst du nicht durch die Wand und selbst wenn, warten da draußen ein paar hundert verrückte Zwerge. Wir können nicht einfach alle niedermachen. Laß uns überlegen, wie ..."
Will unterbrach ihn plötzlich mit einer schwerfälligen Handbewegung.
„Vielleicht hat Telsek aber doch recht. Wenn wir nicht von Dämonen befleckt sind, sind es möglicherweise die Zwerge. Dann wäre das Kaer schon lange kein Schutz mehr vor Dämonen, sondern ein Nest."
Telsek war stehengeblieben und schlug sich vor die Stirn.
„Die Tür! Der Eingang zu den Minen!"
Will und Dryan sahen ihn erstaunt an.
„Welche Tür? Am Mineneingang war nichts", wunderte sich der Elf.
Kurz beschrieb Telsek seinen Gefährten den Zustand der steinernen Tür.
„Das ist also der Grund, weshalb die Tür nicht erneuert wurde. Und auch die Runen am Felsbogen, wo ich eingebrochen bin, waren uralt. Ein Dämon muß sich nicht vor einem anderen schützen."
„Na, so freundlich sind sie untereinander auch nicht", warf Will ein. „Aber trotzdem. Dryan, laß uns vorsichtig ein paar Blicke in den Astralraum werfen. Vielleicht finden wir eine Lösung, wenn wir wissen, was hier los ist."
Der Magier nickte und beide machten sich mit geschlossenen Augen an die Analyse, während Telsek sie gespannt beobachtete. Es hätte ihm nicht sonderlich gefallen, sich durch ein paar hundert, wenn auch verrückte Zwerge zu metzeln, um endlich wieder in Freiheit zu gelangen. Aber bei Dämonen brauchten sie keine Gnade walten zu lassen.
Nach einigen Minuten öffneten die Zauberkundigen kurz nacheinander die Augen. Die beiden wirkten irritierter als sonst nach einer Astralsicht. Dryan sah kopfschüttelnd zu Will auf, der die breiten Schultern zuckte. Dann räusperte sich der Elf.
„Ich weiß nicht so genau. Es gibt hier wirklich einen Dämon, allerdings ..."
„Keiner der Kaerbewohner in meiner Reichweite zeigte nur die Spur eines Mals", setzte Will fort. „Und der Dämon - ich tippe auf einen Hirnwühler. Oder etwas in dieser Art, was wir noch nicht kennen. Stimmt's, Dryan?"
Diesmal zuckte der Elf die Schultern.
„Ich glaube nicht. Einerseits tauchen Hirnwühler normalerweise nicht allein auf und zweitens ist der Dämon ziemlich stark und intelligent. Und irgendetwas ist außergewöhnlich an ihm, ich kann es aber nicht fassen."
„Also ist nichts mit Freikämpfen."
Telsek schwankte zwischen Enttäuschung und Erleichterung.
„Warum wird das eigentlich nie einfach, wenn wir ..."
Die sich öffnende Tür unterbrach ihn. Der Troll griff automatisch an seinen Gürtel, doch der Griff ins Leere erinnerte in daran, daß die Axt noch draußen lag. Aber er hatte noch seine großen zerschrammten Fäuste, die er jetzt angriffslustig hob.
Auch Dryan war aufgesprungen, nur Wills Bewegungen waren so schwerfällig geworden, daß er nicht rechtzeitig in Verteidigungsstellung gehen konnte.
Im Licht ihres Stabes stand Kaliya in der Tür, diesmal ohne Eskorte. Sie trat in die Zelle und schloß die Tür hinter sich, scheinbar ohne Angst vor einem Angriff ihrer Gefangenen.
Als wäre es völlig nebensächlich, sagte sie im Tone einer Feststellung: „Ihr habt soeben nach mir gesucht - da bin ich."
Es dauerte einen Augenblick, bis die Gefährten begriffen, was sie damit gesagt hatte. Die Zauberkundigen begannen, die erstbesten Sprüche, die ihnen durch die Köpfe gingen, zu intonieren und der Troll sprang ohne Rücksicht auf die Aussichtslosigkeit seines Angriffs auf den Dämon in Zwergengestalt zu.
Kaliya jedoch hob einfach eine Hand und die Bewegungen der Gefährten erstarben sofort unter dem gewaltigen mentalen Schlag, der sie traf.
Will kannte das Gefühl bereits, aber für Dryan und Telsek war es das erste Mal, daß sie eine solche ohnmächtige Erstarrung spürten. Nicht einmal ihre Lider gehorchten ihrer Kontrolle, sie konnten ihre Augen weder vor dem Unvermeidlichen schließen noch abwenden. Die Zwergin machte jedoch keinen weiteren Versuch, sie anzugreifen, sondern stützte sich seufzend und scheinbar unendlich erschöpft auf ihren Stab.
„Ich kann Euch ja verstehen, aber ich kann nicht zulassen, daß Ihr mich tötet", sagte sie.
In ihrer Stimme lag nicht die übliche Arroganz und Überlegenheit, die die drei von anderen sprachfähigen Dämonen kannten.
„Allerdings möchte ich, daß Ihr mir zuhört und zwar sehr genau."
Kaliyas Ton gewann an Schärfe.
Das Schaudern spürten die Gefährten nur tief im Innern und gleichzeitig tauchte der gleiche verzweifelte Wunsch auf: Daß Dämonen ihre Opfer wenigstens schnell töten sollten ...
Eine fast unmerkliche Geste der Zwergin gab die Augen der drei frei. Vor allem Dryan und Telsek waren froh, die brennenden Lider endlich senken zu können. Schnell tauschten die Freunde ein paar kurze Blicke aus, um sich der Unversehrtheit der anderen zu vergewissern. Die Zauberkundigen standen wie Statuen mit offenen Mündern, wogegen Telsek gerade im Absprung auf einer Fußspitze erstarrt war. Seine Haltung widersprach jeder Regel des Gleichgewichts - er würde, falls die Lähmung nachließ, schwer vornüber stürzen. Falls die Lähmung je nachließ ...
Der Dämon ging zu den zusammengerollten Matten und setzte sich darauf.
Dann fuhr er - sie fort: „Ihr habt keinen Grund, mir zu glauben - so wie ich keinen habe, Euch zu vertrauen. Aber Eure Erzählung enthielt wenigstens einen Hauch von Hoffnung für Simolda."
Wieder seufzte Kaliya, es klang fast menschlich.
Ihre Gestalt verlor die aufrechte Spannung, sie sah plötzlich uralt aus, als sie mit leiser Stimme fortfuhr: „Ihr habt recht, der Dämon bin ich. Ich weiß nicht, wie lange es her ist; wir haben aufgehört, die Tage und Jahre zu zählen. Das Kaer war sicher, dachten wir, mit Hilfe von Throal gebaut und durch unsere Magier geschützt. Bis ..."
Die Zwergin schluckte schwer und strich sich eine Strähne grauen Haares aus der Stirn.
„Ein Rudel kleiner Dämonen fand trotz allem eine Lücke in der Schutzhülle. Ich weiß nicht, ob es für sie einen Namen gibt. Sie zeigten sich nicht, aber drangen in die Köpfe, die Gedanken und Gefühle der Leute ein, erzeugten erst Alpträume und Aggressionen, dann trieben sie einige in den Wahnsinn und in den Tod. Besonders gern befielen sie die Zauberkundigen, wie meine Eltern. Tassa und Delmor haben sich gegenseitig getötet ...
Ich war damals neun Jahre alt. Eines Tages kam ich früher von der Arbeit in den Gärten zurück, weil ich solche Kopfschmerzen hatte. Die Tür unseres Hauses stand offen und ich rannte hinein, eine finstere Ahnung im Herzen. Da lagen sie im Wohnraum, zerfleischt und verbrannt. Meine Mutter, eine ruhige, sanfte und heilkundige Elementaristin, hatte ihre Hand noch in der aufgerissenen Brust meines Vaters, sein Herz fest umklammernd. Delmor hatte wohl einen Feuerball gewirkt, um sich zu wehren, aber er hätte Mutter nie etwas angetan, wenn er noch bei sich gewesen wäre. Vielleicht ein Lähmspruch ... Von Tassa war nicht mehr viel übrig außer ihrem Arm und ihren Füßen und ein paar schwarzen Knochen. Überall Ruß und Blut ..."
Eine Träne rann der Zwergin über die Wange; sie wischte sie weg wie ein lästiges Insekt.
„Ich weiß nicht, wie lange ich nur da stand und wartete, daß ich aus dem Alptraum erwachen würde. Langsam wurde mir bewußt, daß da meine Eltern lagen und daß sie tot waren. In diesem Augenblick ließen die stechenden Kopfschmerzen nach und neben meiner Verzweiflung spürte ich etwas wie Zufriedenheit. Trotz aller Verwirrung und allen Schmerzes hatte ich so etwas wie einen klaren Gedanken - das angenehme Gefühl in meinem Kopf stammte nicht von mir! Ich wehrte mich gegen dieses Gefühl, zuerst, weil es mir im Angesicht meiner toten Eltern nicht angemessen erschien, dann weil mir mit zunehmendem Entsetzen klar wurde, daß ich ebenfalls befallen war.
Und ich habe es geschafft. Der Dämon war zwar noch da, aber er konnte nicht gegen meine starken Gefühle aufkommen.
Ich berichtete dem Rat vom Tod meiner Eltern, allerdings nicht von dem Ding in meinem Kopf. Dabei bemerkte ich, daß einer der Ältesten vor mir zurückwich - ich stellte ihn und entdeckte die kleine Beule mit der Einstichstelle an seiner Schläfe. Als ich ihn mit all meiner Kraft festhielt und mich seinem Kopf näherte, begann die kleine Wunde zu bluten und ein ekelhaftes schwarzes Ding mit vielen Tentakeln kroch heraus, um vor mir zu fliehen. Ich zertrat es auf dem Boden.
Danach zog ich durch das Kaer und untersuchte die Leute. Es geschah immer das Gleiche; die Dämonen flohen vor mir aus den Köpfen der Befallenen, bis ich endlich alle vernichtet hatte. Und erschreckend wie es war, das Ding in meinem Kopf labte sich an meinem Ekel und an meiner Trauer um diejenigen, die die Entfernung des Parasiten nicht überlebten und übertrug seinen Gefühle auf mich. Und mir fiel es immer schwerer, mich gegen die Anfälle von Sadismus und Mordlust zu wehren, die mich manchmal sogar im Schlaf überfielen.
Eigentlich wollte ich danach nur noch ein ruhiges Plätzchen suchen um zu sterben und überlegte nur noch, wie ich den Dämon daran hindern konnte, nach meinem Tod jemand anderes zu befallen.
Da kam der nächste Dämon, diesmal etwas ganz Großes. Es gelang ihm, den Schutz des Einstiegs zu zerstören und bis zu den Minen vorzudringen. Die letzten unserer Krieger stellten sich ihm entgegen, als er versuchte, das Steintor zu durchbrechen und ich kam zu ihnen. Einerseits hatte ich bei meinen Eltern einiges gelernt und zum anderen hoffte ich auf einen raschen Tod. Das Portal war kurz vor dem Zusammenbruch und die Kämpfer, die hinter steinernen Barrikaden auf das Durchbrechen des Dämons warteten, hatten alle Hoffnung aufgegeben. Die steinernen Türflügel glühten in hellem Rot, und ich zauberte einen Schneesturm, um es abzukühlen. Heute weiß ich, daß das völlig falsch war, aber ich war fast noch ein Kind ...
Die Schutzrunen waren vernichtet und ein kräftiger Stoß hätte die Tür in Staub verwandeln können. Der Dämon bevorzugte es jedoch, sich als gelblicher Nebel durch den haarfeinen Spalt zwischen den verzogenen Türflügeln zwängen. Ich war wirklich lebensmüde, als ich direkt in den Nebel hineinging. Und gleichgültig unserem Schicksal gegenüber. Mein Schmerz war so tief, daß es nicht mehr schlimmer werden konnte, und die Angst hatte ich längst hinter mir gelassen. Und der Nebel zog sich zurück!
Noch dreimal versuchte ein Dämon, das Kaer zu betreten und jedesmal verschwand er wieder, wenn ich ihn berührte. Dabei wuchs das Ding in meinem Kopf und teilte seinen Triumph mit mir.
Seitdem ist also dieses Wesen in mir. Wahrscheinlich brauchen wir uns gegenseitig. Es erhält mich am Leben weit über meine Zeit hinaus und verhindert das Eindringen anderer Dämonen in unser Kaer und ich - ich liefere ihm die Gedanken, Gefühle, Ängste und Träume, von denen es sich ernährt. Wenn ich wach bin, kann ich es ganz gut kontrollieren. Und ich habe mich daran gewöhnt, in Fesseln zu schlafen. Nach all den Jahren sind wir vermutlich untrennbar verschmolzen.
Ich weiß also ganz sicher, daß es noch Dämonen gibt. Und Ihr kommt her und tischt uns eine Geschichte vom Ende der Plage auf!"
Wieder klang die Zwergin scharf, fast wütend. Sie sprang auf und stellte sich vor den gelähmten Gefährten auf. Und obwohl Kaliya erheblich kleiner als sie war, hatten die drei das Gefühl, unter ihrem stechenden Blick so geschrumpft zu sein, daß sie zu ihr aufsehen mußten.
Als sie fortfuhr, flüsterte sie nur noch. Ihre Enttäuschung und Trauer waren fast körperlich schmerzhaft zu spüren.
„Ihr seid noch langer Zeit die ersten Namensgeber, die hier ankommen und nicht verseucht oder gezeichnet sind. Ich hatte gehofft, daß andere Kaers vielleicht Wege gefunden haben, Kontakt aufzunehmen. Aber ... Ach, wozu braucht man Dämonen, wenn die Namensgeber selbst schon so grausam sind. Ich möchte wenigstens den Grund wissen, weshalb ihr uns so belügt."
Aufrecht, anklagend und hart sah Kaliya wieder jung aus, obwohl sie die Lebensspanne der Zwerge schon weit überschritten hatte. Ihre Augen funkelten wie Eis im Mondlicht. Sie löste den Lähmungszauber, wieder ohne jede Angst vor einem magischen oder physischen Angriff durch die Gefährten zu haben.
Während Telsek polternd zu Boden stürzte und die Zauberkundigen versuchten, den Troll wenigsten abzufangen, verließ die besessene Zwergin mit der Bemerkung „Ihr habt eine Stunde Bedenkzeit" die Zelle.
Stöhnend richtete sich der Krieger auf. Seine ausgezeichneten Reflexe und Wills rechtzeitig zugreifende Hand hatten ihn vor schlimmeren Verletzungen bewahrt.
„Bloß ein paar blaue Flecke", winkte er ab, als sich Dryan besorgt nach seinem Befinden erkundigte. „Es war mehr laut als schmerzhaft."
Will starrte unterdessen ungläubig auf seine Hände, bewegte die Finger und war das personifizierte Erstaunen.
„Wie hat sie das gemacht? Seht, ich kann mich wieder richtig bewegen! Ich hätte dich gar nicht auffangen können, wenn ..."
„Sie ist sehr stark, da hast du recht", stimmte Dryan zu. „Und gefährlich. Sie hätte uns wirklich jederzeit umbringen können."
„Redet nicht so. Ich glaube ihr."
Telsek hatte zwar den größten Schaden von dem Gespräch davongetragen, aber er verteidigte Kaliya.
„Sie hat uns nicht umgebracht. Laßt uns lieber überlegen, wie wir sie überzeugen können."

Als Kaliya nach der angegebenen Zeit wieder in die Zelle kam, neigten die Gefährten den Kopf vor ihr. Die Zwergin war offensichtlich erstaunt über die Höflichkeit und ihre Stimme klang weniger scharf, als sie die geforderte Erklärung verlangte.
Diesmal ergriff Will das Wort. In seiner knappen und sachlichen Art erläuterte er Kaliya das Ritual aus dem Buch von Morgen, mit dem in vielen Kaers auf das Ende der Plage gewartet und schließlich der eigenartige Zwischenzustand der Welt festgestellt worden war.
Telsek und Dryan hatten sich währenddessen in einem Winkel des Raumes hingesetzt und versuchten, ungefährlich zu wirken.
„Es ist einfach so, daß das Magieniveau seit Jahren nicht mehr sinkt. Noch niemand hat den Grund dafür herausgefunden. Die meisten großen Dämonen sind verschwunden und viele Kaers offen. Die Wälder wachsen wieder, das Wasser aus dem Schlangenfluß ist trink- und schiffbar und es wird Handel getrieben. Throal ist inzwischen ein machtvolles Reich und Abenteurer wie wir ziehen durch Barsaive, versuchen, die letzten Dämonen zu vernichten und vergessene Orte zu finden. Ihr könntet Euch Throal anschließen, die alten Verbindungen wieder aufleben lassen."
Der Obsidianer sah zu Kaliya auf. Er hatte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden gesetzt, um nicht von oben herab zu der Zwergin zu sprechen und schenkte ihr sein außergewöhnliches Lächeln.
Kaliya sah nachdenklich zu ihm und seinen Freunden hin.
„Ich möchte Euch gern glauben, so gern", sagte sie leise.
Dann schwieg sie und ließ die Zeit verstreichen, während sie zu Boden blickte.
Telsek war am ungeduldigsten.
„Dann führt das Ritual durch. Ich bin sicher ..."
Kaliya hob die Hand und der Troll verstummte. Ein böses Lächeln zog über das Gesicht der Zwergin, als Telsek verzweifelt nach Luft schnappte und die Hände an seine Kehle preßte. Bevor Dryan aufspringen konnte, hatte Kaliya jedoch den Zauber wieder aufgehoben und Telsek konnte wieder atmen.
Will hatte sie unterdessen sehr genau beobachtet und den Kampf in ihrem Gesicht richtig verstanden.
„Es hat Angst, nicht wahr?", fragte er.
Kaliya schloß die Augen und nickte. Als sie sie wieder öffnete, sah sie gequält aus.
„Es versucht, mich daran zu hindern. Und außerdem haben wir kein ..."
Sie hielt inne und runzelte die Stirn. Dann sah sie der Reihe nach den Gefährten in die Augen.
„Ihr hättet mich wahrscheinlich nie überzeugt, aber seine Reaktion ist erstaunlich. Für mich reicht das aus, die anderen brauchen wahrscheinlich trotzdem einen handfesteren Beweis. Aber wir haben keine Wahren Elemente hier."
Sie hob bedauernd die Schultern.
Diesmal sprang Dryan auf.
„Wahre Erde haben wir, in meinem Rucksack ist ein Orichalkumbeutelchen. Aber Wasser - da müßten wir zum Schlangenfluß oder zu einem guten Händler."
Dann wurde dem Elfen klar, daß er ein Gefangener war, auch wenn die Wärterin guten Willens war.
Kaliya nickte langsam.
„Wie gesagt, ich glaube Euch. Wenn es nur um Euch ginge, wäre es nicht so schwierig, aber es geht um mein Kaer. Ich werde Euch hinausbringen, ich kenne die verborgenen Wege. Aber ich erwarte, daß Ihr wiederkommt und das Ritual vorführt. Für alle, damit sie endlich hinauskönnen."
Sie richtete sich noch weiter auf als sonst und wirkte strahlend und drohend - eine Göttin der Gerechtigkeit. Ihre eisigen Augen blitzten gefährlich.
„Ich verlange einen Bluteid, daß Ihr innerhalb von vierzig Tagen wieder hier seid und das Wahre Wasser dabei habt."
„Fünfzig Tage."
Will hatte seine Position nicht verändert und war immer noch die Ruhe selbst.
„Wir müssen noch einem Freund beistehen. Doch wenn einer von uns überlebt, wird er wieder hierher kommen, das schwören wir."
Er brauchte sich nicht umzuwenden, um das bestätigende Nicken von Dryan und Telsek zu sehen.

Es war früher Vormittag, als die sich Gefährten wieder neben dem Felsbogen fanden. Eine dünne Wolkendecke bedeckte den Himmel und die Sonne stand als weiße Scheibe im Südosten. Einige Zeit standen die drei einfach nur da und ließen den Blick über die weite Landschaft schweifen. Die mächtigen Berge waren in Dunst gehüllt, die Heide und die Wälder glänzten in frischem Grün nach einem nächtlichen Regen. Das Land wirkte sanft und weich im gedämpften Licht.
Schließlich ergriff Will das Wort: „Selbst wenn wir nicht durch unser Blut gebunden wären - Kaliya und ihre Leute müssen das hier sehen."



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