6. Kapitel


Der lange Arm Vivanes




„Halte dir die Ohren zu, dann ist es nicht ganz so schlimm!"
Dryan mußte brüllen, um sich Telsek verständlich zu machen.
Der Schrei des Brunnens, ein langgezogener, auf- und abschwellender Ton, zerrte an ihren Nerven. Seit die Gefährten auf der Zentralstraße unterwegs waren, konnten sie zeitweilig sogar rennen, wenn nicht Schutthaufen oder wucherndes Gestrüpp aus Rollmoos und Giftranken den Weg versperrten. Allerdings war der Preis für den einfachen Weg hoch. Es kostete vor allem Dryan und Telsek ihre gesamte Willenskraft, dem Schrei des Brunnens zu widerstehen. Das gesamte Leid der zerstörten und gequälten Stadt, aber auch die Summe der Bösartigkeit der Dämonen, der wahnsinnigen Passionen und ihrer Anhänger waren in diesem Heulen konzentriert.
Der Troll schwankte und Tränen liefen über sein graues Gesicht.
Aber er rannte weiter, einen Fuß vor den anderen setzend im Rhythmus der Worte, die er vor sich hin murmelte: „Kron braucht uns. Kron braucht uns. Kron braucht uns ..."
Es war fraglich, ob Dryans Ruf zu ihm durchdrang.
Will hingegen wirkte wie eine Maschine, die unbeirrt ihren Weg nahm. Keine Regung war ihm anzusehen, als er den Fuß der Pyramide umrundete, auf deren oberster Stufe der Brunnen stand.
Dennoch war sich Dryan sicher, daß auch der Obsidianer den Schmerz spürte, der im Schrei des Brunnens steckte. Er selbst hatte sehr zu kämpfen, nicht vor Qual auf die Knie zu sinken und sich auf dem Boden zu wälzen. Dryan rief sich die Bilder von der Schönheit des Singenden Brunnens ins Gedächtnis, die er vor ein paar Jahren in einem Buch in der theranischen Großen Bibliothek gesehen hatte, die Erhabenheit der Stufenpyramide, die phantastischen Muster der Wasserspiele, die großartigen Statuen der zwölf Passionen, die ihn umstanden. Den Gesang hatte er selbst nie gehört, aber die Beschreibungen in den Buch waren überwältigend. Fast bedauerte Dryan, daß beim Verbergen der Stadt so gründlich vorgegangen worden war, daß alle Erinnerungen und Aufzeichnungen verschwanden. Und das Auftauchen des Buches, nachdem Parlainth wieder entdeckt worden war, gehörte zu den Wundern, für die er den Passionen dankte. Sonst hätte vielleicht niemals jemand erfahren, wie schön diese Stadt vor der Plage einmal gewesen war. Und Dryan war auch dankbar dafür, daß sie den Brunnen in der Nacht passierten. Er hatte kein Bedürfnis, die kunstvollen Muster der Wasserspiele in fließendem Blut zu sehen und einen Blick auf die erhaltenen Standbilder der wahnsinnigen Passionen zu werfen, deren verzerrte Gesichter zu den großen Schrecken Barsaives gezählt wurden.
Dann war es mit einem Mal vorbei. Das Heulen war zwar immer noch zu hören, aber das Gefühl, daß es im eigenen Kopf entstand, hatte nachgelassen. Schwer atmend blieb Dryan für einen Moment stehen und sah nach seinen Gefährten. Seine Konzentration auf die Erinnerung an die Aufzeichnungen hatten dem Elfen seinen Verstand erhalten.
Auch Will und Telsek hatten es geschafft, obwohl sie mitgenommen aussahen. Will lehnte an einer Hauswand, so schlaff als hätte ihn etwas ausgesaugt. Der Krieger stand mit glasigen Augen mitten auf der Straße und sein Murmeln wurde immer langsamer und leiser.
„Alles klar?" fragte Dryan mit belegter Stimme.
„Ja, wir können weiter."
Will löste sich mühevoll von der Mauer.
Von Telsek kam ein bestätigendes Brummen.
„Gut. Wir können nämlich nicht lange hier bleiben. Ich bin mir sicher, wir werden beobachtet", sagte Dryan.
Auch Telsek und Will spürten ein beunruhigendes Kribbeln im Nacken, als sich ihr Gefühlsaufruhr langsam legte. Rasch ließen sie ihre Blicke über die ehemals prachtvollen Fassaden an der Nordwestpromenade schweifen. Niemand war zwischen den Säulen und in den stuckverzierten Fensterhöhlen zu sehen, aber das hieß nichts. Und sie standen mitten auf der leeren Straße, hervorragende Ziele.
Mit einer kurzen Kopfbewegung gab Will die Richtung an und die Freunde stürzten in einen Eingang, der rechts neben ihnen lag. Keinen Augenblick zu früh - mit trockenem Klicken schlugen ein paar Armbrustbolzen hinter ihnen aufs Pflaster. Allerdings schien ihnen niemand zu folgen.
Schutt bedeckte den Mosaikboden des großen Saales. Die Pyramide sah aus wie kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch, die Wände knirschten. Trotzdem bot sie zunächst einmal Deckung, und die Freunde bereiteten sich auf die Durchquerung des Kriegsgebietes vor.
Der Einstieg in die Katakomben, der ihnen bekannt war, lag ziemlich weit im Westen. Aber es war wahrscheinlich immer noch einfacher, kämpfenden Falschmenschen auszuweichen, die kaum an Lebenden Interesse hatten, als weiter die Zentralstraßen zu benutzen, die von rivalisierenden Räuberbanden kontrolliert wurden. Schon manche Abenteurergruppe, die einen Kampf mit einem Dämon überstanden hatte, war auf den Promenaden getötet worden. Die Bolzen waren eine deutliche Warnung gewesen - bisher hatten sie einfach zuviel Glück gehabt.
Will und Dryan wirkten ein paar Schutzzauber. Wenn sie nicht aufgehalten wurden, den dichten Pflanzenteppich schnell genug durchquerten und den Einstieg ohne große Probleme fanden, konnten sie in zwei bis drei Stunden in den Katakomben sein. Für die Suche veranschlagte Dryan noch einmal zwei Stunden - er hatte eine Ahnung, wo in den magischen Laboren ein Astralsextant zu finden war, nämlich im Experimentalbereich zur Dämonenbeschwörung. Um ihre Verteidigungsanlagen zu testen, hatten die Zauberkundigen der Stadt zu Beginn der Plage einige Dämonen bewußt herbeigerufen. Dabei war es auch zu einigen Unfällen gekommen, deren Auswirkungen allerdings während der Plage bei weitem übertroffen wurden.
Weder Dryan noch seine Freunde machten sich Illusionen darüber, wie lange sie dort unten verbringen konnten, wenn sie keinen Sextanten fanden. Zwei Stunden, dann würden sie mit oder ohne das Artefakt zurückkehren. Im schlimmsten Falle mußten sie sich dem Jäger persönlich stellen.
„Hoffnungslos, wie immer", kommentierte Will trocken ihre Überlegungen und Vorbereitungen.
Dann rannten sie los, während in ihrem Rücken die Sonne aufging.

Telsek übernahm zunächst die Führung der Gruppe. Gleich hinter der Pyramide begann der Dschungel. Die große Axt zerteilte dornige Zweige und bewegliche Ranken, Blüten von Orchideen in düsteren Farben zerspritzten und die Tropfen fraßen zischende Löcher in den Boden. Der Troll nahm keine Rücksicht auf irgend etwas und die Zauberkundigen, die ihm hinterherhetzten, wußten auch wieso.
Hinter Wills breitem Rücken schloß sich die Vegetation fast sofort wieder und das Rascheln der Blätter erinnerte an die Geräusche, die die Schlingranken in den Kleinen von sich gegeben hatten.
Wütende Schlangen. Wurzeln legten sich wie Fallstricke um die Füße, Lianen schlugen peitschend nach ihren Gesichtern. Der Schweiß lief ihnen in Strömen die Körper hinunter, und Telsek hatte nach kurzer Zeit nicht einmal genug Atem, um ausgiebig zu fluchen. Sein Gesicht und die Hände waren von Blasen bedeckt, als sie endlich ihren ersten Orientierungspunkt, den Sockel einer zerfallenen Pyramide erreichten.
Keuchend hielten die Gefährten inne. Gleich würde die erste Auseinandersetzung mit den Falschmenschen stattfinden, die die Gebäudereste im Kriegsgebiet verteidigten, als ginge es um ihr „Leben". Doch keines dieser Konstrukte ließ sich sehen, so daß sich die Gefährten auf einer nur von dünnen Flechten bewachsenen Stufe niederließen, um zu Atem zu kommen.
„Du sturer Dickkopf von einem Troll", schimpfte Dryan, als Telsek neben ihm die Augen verdrehte und zur Seite sackte. „Mach den Mund auf und schlucke!"
Geistesgegenwärtig zog der Elf eine kleine Phiole aus seinem Beutel und flößte den Inhalt der Flasche dem fast Bewußtlosen ein. Dann reinigte er die Schnittwunden an Telseks linkem Unterarm, in denen eine zähe ölige Flüssigkeit glänzte.
„Wenn ... wenn wir angehalten hätten", krächzte der Krieger und stemmte sich hustend hoch, „wäre es noch schlimmer geworden. So hat es bloß einen erwischt."
Langsam kehrte das gesunde Grau in sein Gesicht zurück, als das Gegengift seine Wirkung entfaltete.
Inzwischen stieg Will die Stufen der Pyramide hinauf. Es irritierte ihn, daß keine Falschmenschen in der Nähe waren. Es müßte hier nur so wimmeln ...
Da sah er sie. Wie von ungeschickten Kinderhänden zusammengesetzte Puppen standen drei Strohmenschen auf der letzten noch existierenden Stufe der Pyramide. Die Seite ihres Kopfes, die bei Namensgebern mit einem Gesicht ausgestattet war, war nach Südwesten gerichtet. Sie beachteten den Obsidianer nicht, obwohl Will sich sicher war, daß sie ihn wahrnahmen. Ihre Armbänder aus zerfetzten bläulichen Lumpen wiesen sie als Angehörige der Armee von Niemals Aufgeben aus, falls die Farben nicht wieder einmal gewechselt worden waren.
Will starrte angestrengt in die gleiche Richtung. Dann begann er zu lachen. Sie hatten wirklich ein unheimliches Glück; die Passionen mußten mit ihnen sein.
Die drei Strohmenschen wandten sich kurz nach dem Geräusch um, machten aber immer noch keine Anstalten, den ungebetenen Gast anzugreifen. Dafür stürzten Dryan und Will die Pyramidenstufen hinauf, der Krieger schwankte immer noch etwas. Sie fürchteten, daß dem Obsidianer etwas zugestoßen sei. Immer noch die ungewöhnlichen Laute ausstoßend wies Will in Richtung der Großen Kluft.
Der leichte Dunst, der in der Vormittagssonne aus dem dichten Dschungel stieg, trübte die Sicht. Und dennoch war zu erkennen, daß an dem tiefen Riß, der das Kriegsgebiet durchzog, eine Schlacht tobte. Die beiden großen Armeen von List und Brecher schienen diesmal eine endgültige Entscheidung über die Vorherrschaft im Kriegsgebiet herbeiführen zu wollen. Keiner der Falschmenschen schien ein gutes Gedächtnis zu haben. Mit schöner Regelmäßigkeit wurde die große Schlacht alle zwei bis drei Jahre geführt und bisher hatte es noch nie einen Sieger gegeben.
Dryan war sich nicht sicher, ob er lachen oder sich angewidert abwenden sollte. Er hatte nicht übel Lust, einen Feuerball auf den über dem Schlachtfeld schwebenden Drakkar von Pagmor Güldenhals, die 'Unnachgiebige', zu werfen.

Das ehemalige Militärgelände von Parlainth war nach Dryans Auffassung das wohl abscheulichste Viertel der Vergessenen Stadt. Das lag nicht daran, daß hier die wenigsten Gebäude standen oder an der unnatürlichen Vegetation, die den Schutt wie ein Teppich bedeckte. Nachdem die Namensgeber in Parlainth ausgerottet waren, benutzten die Dämonen das Kriegsgebiet als Spielplatz für ihre sadistischen Gelüste. Die von den Theranern als Hilfskräfte geschaffenen magischen Maschinen in menschlicher Gestalt waren als Befehlsempfänger konstruiert und schnell von den Dämonen übernommen worden. Die besseren, stabileren und intelligenteren unter den Falschmenschen, die das Gemetzel unter den Namensgebern und die magischen Ausbrüche der vergeblichen Verteidigungsversuche intakt überstanden hatten, wurden zu Anführern von Kampfgruppen ernannt, die dann im Namen der jeweiligen Dämonen gegeneinander antraten.
Wie Zinnsoldaten in einem Strategiespiel schoben die Dämonen ihre Truppen über das Schlachtfeld. Stumpfsinnig und fühllos führten die Falschmenschen die Befehle aus, verteidigten Schutthaufen und umgestürzte Türme, besetzten Gebiete und schlugen aufeinander ein. Und obwohl Dryan wußte, daß es sich um Konstrukte handelte, hatten ihre Schöpfer einigen der Stein- und Stahlmenschen so lebendige Gesichter gegeben, daß es ihm schwerfiel, sie nicht als Wesen zu betrachten. Selbst die formlosen Gestalten aus Stroh oder Wachs, die nur für einfachste Aufgaben zu gebrauchen und die von den Dämonen immer wieder als Kanonenfutter neu hergestellt worden waren, hatten etwas Mitleiderweckendes an sich.
Falls jedoch irgendeines dieser Konstrukte jemals so etwas wie eine rudimentäre Seele gehabt hatte, war sie von den Dämonen korrumpiert worden. Die Namen, die den älteren Stein- oder Stahlmenschen von ihren neuen Herren gegeben worden waren, wurden der Ausdruck ihres Seins, Meuchler, Gnadenlos, Teuflisch oder Drohung waren nur einige der bekanntesten unter ihnen. Dagegen hatten die weniger stabilen Falschmenschen aus Wachs oder Stroh Bezeichnungen wie Verrottung, Schleicher oder Dreck. Die meisten jedoch waren namenlos geblieben und führten Befehle stur aus, ohne die Spur einer Persönlichkeit.
Im Moment führten zwei Stahlmenschen die Falschmenschenkriege. List personifizierte die Hinterhältigkeit und Täuschung, wogegen Brecher auf brutale Gewalt setzte.
Ihre uralten Befehle, die Kluft zu verteidigen, Ruinen zu beschützen und nicht bis zur eigenen Zerstörung zu kämpfen, um Material zu sparen, wirkten jedenfalls immer noch und führten zu den völlig sinnlosen Schlachten.
Die dritte große Gruppe Falschmenschen wurde von einem Steinmenschen namens Niemals Aufgeben geführt. War er selbst auf die Idee gekommen, sich nicht direkt mit dem stärkeren Brecher oder dem schlaueren List anzulegen, sondern darauf zu warten, daß die beiden sich gegenseitig so schwächten, bis er einen Vorteil daraus schlagen konnte?
Dryan neigte dazu, selbst ihm ein paar eigene Gedanken zuzugestehen, aber Will schüttelte den Kopf, als der Elf ihn fragte.
„Das Ding arbeitet immer noch einen Befehl ab. Schau sie dir doch an", er zeigte auf die drei Gestalten, die immer noch die Schlacht „beobachteten".
„Du könntest jetzt ihre ach so wichtige Pyramide sprengen oder einen von ihnen anzünden. Sie haben nur einen einfachen Befehl und würden nicht reagieren. Die Anführer sind nur etwas komplexer, sie können fünf Befehle behalten."
Der Krieger hingegen zuckte die Schultern.
„Keine Ahnung. Aber manchmal schäme ich mich, ein Troll zu sein. Laßt uns endlich gehen."
Mit einem letzten Blick auf Pragmors fliegendes Wettbüro, das über dem Schlachtfeld hing wie eine Schmeißfliege mit Schlagseite, stiegen die Gefährten vom Pyramidenstumpf und arbeiteten sich weiter durch die Pflanzen.
Diesmal übernahm der Obsidianer die Führung. Der Weg, den er durch die Vegetation brannte, schloß sich nicht ganz so schnell und die meisten Gifte wurden durch die Hitze unschädlich gemacht. Die Gefährten kamen zwar nicht mehr ganz so schnell voran wie zuvor, aber es war erheblich ungefährlicher, wie sogar Telsek zugeben mußte.
Am Stumpf eines der großen umgestürzten Türme legten sie noch einmal eine Pause ein und suchten dann nach dem Einstieg, der in der Nähe liegen mußte. Trotz des dichten Pflanzenteppichs entdeckte Will den Einbruch, der in einen Tunnel der Katakomben führte, schnell und vorsichtig schwebten die Gefährten in die Tiefe.

Im schwächlichen und flackernden Licht des Leuchtquarzes waren die in die Wandplatten aus Kalkstein eingemeißelten magischen Zeichen und Symbole nur schwer zu erkennen. Selbst die einfache Magie des Quarzes wurde durch die mystische Energie, die die Tunnel immer noch wie ein Nebel durchzog, gestört. Telsek zog ein paar neue Fackeln aus seinem Rucksack und verteilte sie. Diesmal hatte selbst er ein ungutes Gefühl, als er daran dachte, daß die Zauberkundigen hier wenig Möglichkeiten hatten. Selbst eine einfache Astralsicht würde zu unvorhersehbaren Effekten führen, es war niemals klar, ob das, was man sah, die derzeitige oder eine längst vergangene Wirklichkeit beschrieb. Oder aber, wie Will beim letzten Mal geschehen war, man erwischte das emotionale Echo eines zu Tode gequälten Namensgebers, eines sterbenden Dämons oder eines dem Wahnsinn verfallenen Magiers, der sich in den letzten Kampf stürzte.

Eine der größten magischen Schlachten in der ganzen Plage hatte sich hier abgespielt. Das Herauslösen der Stadt aus der Realitätsebene, um sie vor den Dämonen zu schützen, hatte sich als Fehler erwiesen. Als Parlainth aus Barsaive (und dem Gedächtnis der Namensgeber) geschoben worden war, hatte die Dämonen schon längst von ihr Besitz ergriffen. Nach und nach war die Stadt dann zerstört worden, ohne daß irgend jemand entkommen konnte, eine tödliche Falle. In einer verzweifelten letzten Anstrengung warfen die besten parlainther Magier alles, was sie an astraler Energie besaßen, jeden bekannten und unbekannten Zauberspruch in eine einzige Auseinandersetzung.
Und sie verloren. Nach all der Zeit war immer noch genug zurückgeblieben, um die westlichen Katakomben zu einem der rätselhaftesten und gefährlichsten Orte ganz Barsaives zu machen.

Ein Stahlmensch taumelte durch den Tunnel, auf der Suche nach einem Weg zu seiner Armee. Durch die vielen Öffnungen, die die Zerstörungen in die Tunneldecke gerissen hatten, fielen immer wieder Falschmenschen in die Katakomben. Die mit Schlacke bedeckte und rostige Gestalt stellte jedoch keine Gefahr für die Gefährten dar. Die magischen Sinne des Stahlmenschen waren durch die astrale Hintergrundstrahlung so verwirrt, daß er immer wieder im Kreis lief und polternd gegen die Wände prallte.
„Wie eine betrunkene Fliege", kommentierte Will.
Dryan orientierte sich an den verblaßten Schriftzügen, die für jemanden, der sie entziffern konnte, Parolen zu Ehren Theras darstellten, und übernahm die Führung durch die verfallenen Gänge. Will hielt Vardeghols Karte mit ihren eigenen Ergänzungen, die zumindest diesen Teil der Katakomben recht genau beschrieb, sofern sich nicht einige Decken gesenkt oder Tunnel verschoben hatten. Hinter ihnen verklang das metallische Rasseln.
In kurzer Zeit erreichten sie die Räume, die sie bei ihrem letzten Besuch als einen Teil der magischen Laboratorien erkannt hatten. Ein entferntes markerschütterndes Heulen und das Vorbeihuschen eines Triplikanten, der sie jedoch nicht beachtete, warnten die Gefährten, sich nicht zu sehr in Sicherheit zu wiegen. Die einst magisch verschlossenen Türen hingen schief in den Angeln, die Böden waren mit zerschmetterten alchemistischen Geräten bedeckt.
Zielsicher führte Dryan seine Freunde in den Raum, deren Boden mit einem Mosaik aus Schutzkreisen und Bannsymbolen überzogen waren. Die meisten Zeichen waren sehr machtvoll, wie Will und Dryan in der Schule der Schatten gelernt und auch experimentell bestätigt hatten. Eigentlich hätten selbst die stärksten Dämonen diesen Raum weder betreten noch verlassen können. Eigentlich ...
Jetzt war der Raum nur noch mit Schutt gefüllt, ein Teil der Decke war herabgestürzt, wie von einer riesigen Hand heruntergerissen. Telsek glaubte, an einigen Brocken Spuren riesiger Klauen zu erkennen. Aber vielleicht waren es auch nur Risse. Einige herumliegende Teile schienen zu Käfigen gehört zu haben, andere zu Regalen und Schränken. Die Gefährten begannen, die Trümmer systematisch zu durchsuchen.
Wieder bedauerten alle drei, daß sie nur so wenig Zeit hatten. Trotz aller Zerstörungen waren in vielen Bereichen der westlichen Katakomben noch Artefakte, Schriften und magische Gegenstände vorhanden, die nicht nur unschätzbare Werte darstellten, sondern auch einen umfangreichen Schatz an Wissen. Doch jetzt suchten sie nur nach einem einzigen Artefakt, von dem allerdings nach den meisten Gerüchten mehrere Exemplare vor und während der Plage hergestellt wurden.
Plötzlich rief Telsek nach seinen magisch begabten Freunden: „Ich hab was!"
Das war es, eines der magischen Meßgeräte, die Parlainths große Zauberkundige vor Jahrhunderten so perfekt geschaffen hatten. Der Astralsextant war ein großartiges Beispiel für die Ausgewogenheit von Ästhetik und Nützlichkeit, die vielen theranischen Geräten zu eigen war. Ein Geflecht von ineinander verschachtelten Ringen aus einer kupfern glänzenden Legierung - es war sicherlich Orichalkum enthalten - war auf einem Sockel aus schwarzem polierten Stein befestigt. Eine Vielzahl von Achsen und Lagern erlaubten die Bewegung der Ringe in alle möglichen Richtungen. Ein geschwungener Zeiger und mehrere fein ziselierte Skalen vervollständigten das Gerät.
Zum Glück hatten Will und Dryan schon während ihrer lange zurückliegenden Ausbildung in Thera Beschreibungen von Astralsextanten gesehen. Ohne sich von der Vielzahl von Rädern, Kugeln und Anzeigen verwirren zu lassen, legte der Elf seine schmalen Hände auf den Sextanten und versetzte sich in einen Zustand tiefster Konzentration, im sicheren Wissen, daß ihn seine Freunde vor jeder eventuellen Bedrohung schützen würden. Selbstverständlich wußten alle drei, daß es hier in den Katakomben schwierig war, auf astrale Energien zuzugreifen, aber die Abschirmung des Laboratoriums war noch nicht vollständig zerstört. Es konnte, nein, es mußte einfach gelingen!
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Dryan mit einem triumphierenden Lächeln zu Telsek und Will aufsah.
„Ich habe es geschafft", sagte er und Erschöpfung klang in seiner Stimme mit. „Ein Faden vierten Ranges. Jetzt müßte ich ..."
Er stellte sich den Astralsextanten auf die Handfläche, drehte an einigen Ringen und richtete den Zeiger auf seine Gefährten aus.
Ein Ausdruck des Entsetzens zog plötzlich über sein Gesicht, schnell stellte er das Gerät wieder ab. Telsek, der am wenigsten von der Funktionsweise des Sextanten verstand, sah den Magier fragend an.
„Keine Sorge, ich habe bloß nicht mit dieser intensiven Reaktion gerechnet", erklärte Dryan. „Also, ihr seid in Ordnung. Kein Mal, kein Fluch. Aber hinter euch lauern mindestens fünf mittlere Dämonen."
Er gab Will und Telsek einen Augenblick Zeit, um mit gezogen Waffen herumzufahren, dann fuhr er fort: „Allerdings in einer Entfernung von mehr als hundert Schritt. Wegen der Namen müßte ich mal in unserem Buch nachschlagen. Außerdem hocken drei Räume weiter ein paar Gharmeks und unser verwirrter Blechfreund beim Einstieg ist noch nicht weitergekommen."
Das freundliche Lächeln auf dem Gesicht des Elfen hielt die beiden anderen davon ab, ihn wegen des kleinen Schocks zu beschimpfen. Für Dryan mußte es viel schlimmer gewesen sein, als plötzlich die Zahlen und Namen in seinem Verstand auftauchten. Der Astralsextant war einfach ein Meßgerät für Dämonen, und hier in Parlainth, vor allem in den Katakomben wimmelte es von diesen Wesen.
Was das Gerät allerdings angezeigt hatte, war für hiesige Verhältnisse relativ harmlos, aber es war trotzdem besser, so schnell wie möglich zu verschwinden. Dryan ließ noch einen letzten bedauernden Blick über diesen Hort unerforschter Geheimnisse schweifen, dann machten sie sich auf den Rückweg.

Die Schlacht an der Großen Kluft war immer noch in vollem Gange. Ein Trupp versprengter Wachsmenschen ließ sich durch den Anblick der Flamme von Kegels Schwert in die Flucht jagen, aber sonst blieben die Gefährten bei der Durchquerung des Kriegsgebietes wieder unbehelligt.
Auf der Nordwestpromenade war es dann mit ihrem Glück vorbei. Eine Bande von einem Dutzend Räubern überfiel die Gruppe aus dem Hinterhalt eines zerfallenen Prunkbaus. Es dauerte zwar nicht lange, bis die Hälfte der Banditen bewußtlos und die andere Hälfte auf der Flucht waren, aber Dryan steckten zwei Armbrustbolzen in Arm und Schulter und der Axthieb eines Orks hatte Will in die Seite getroffen, war aber zum Glück an den Rippen abgeglitten.
Die Wunde sah jedoch böse aus, und das blaue Blut des Obsidianers durchtränkte schnell den eilig angelegten Verband. Den Gefährten blieb nicht weiter übrig, als eine kurze Rast einzulegen.
In dem Haus, das die Räuber als Ausgangsbasis benutzt hatten, zauberte Will ein heilendes Feuer auf sich, während Telsek dem Elfen die Bolzen entfernte, die wenigstens nicht vergiftet waren. Nach einer halben Stunde war das Schlimmste überstanden.
Der Schreiende Brunnen war leiser geworden, als die Gefährten ihn passierten. Diesmal drang der Schmerz nicht direkt in ihr Bewußtsein, dafür knieten auf den Stufen der Pyramide sieben Anhänger einer der wahnsinnigen Passionen und heulten mit. Als sie ihrer ansichtig wurden, stürzten sich die schwarzgewandeten Namensgeber kreischend auf die drei. Allerdings war ihr Angriff unkoordiniert und ohne Überlegung geführt, so daß die Gefährten keine große Mühe hatten, die Verrückten abzuwehren, die erst aufhörten, um sich zu schlagen, als sie fast tot am Boden lagen.

Am späten Nachmittag erreichten die Gefährten endlich wieder die Dunkelzone. Die ständige Eile, die durchwachte Nacht und die Strapazen des Weges forderte ihren Tribut. Beim Überklettern der Dächer verlor Telsek das Gleichgewicht und konnte sich nur mit Mühe an einem Schornstein halten, der zu zerbrechen drohte. Die Ranken in der Gasse zwischen den Häusern raschelten erst erwartungsvoll, dann enttäuscht, als sich der Troll mit Wills Hilfe wieder auf das flache Dach zog. Dort lag Telsek für einen Augenblick und atmete schwer.
Der Obsidianer setzte sich vorsichtig neben ihn auf den Rand des Daches, Dryan blieb stehen und lauschte in die Dunkelheit. Die Geräusche klangen nicht beunruhigender als sonst, aber die Erschöpfung machte ihnen allen zu schaffen.
„Das letzte Stück schaffen wir auch noch", machte Will sich und den anderen Mut.
Aber auch er konnte nicht verbergen, daß außer der Müdigkeit auch die Ungewißheit an seinen Nerven zerrte. Würden sie rechtzeitig wieder bei Kron sein? Was würde der Astralsextant anzeigen? Und vor allem - konnten sie ihren Freund noch retten?
Mit dem Schlimmsten rechnend machten die Gefährten sich wieder auf den Weg.
Ohne größere Probleme stiegen sie wieder durch das Fenster ein, nachdem sie sich vergewissert hatten, daß die Situation vor dem Haus unverändert war. Allen dreien fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als sie Kron so vorfanden wie sie ihn verlassen hatten. Die Kadavermenschen mußten ihn inzwischen gefüttert haben, sein zerschlissenes Hemd wies ein paar neue Flecken auf, die nach Bohnensuppe rochen. Allerdings war er immer noch oder schon wieder ohne Bewußtsein, ein Zustand, der keinem der Gefährten gefiel. Wenn sie ihn nicht bald hier herausschafften, würde er entweder dem Dämonenjäger oder seinem Wahnsinn zum Opfer fallen.
Vorsichtig richtete Dryan den Astralsextanten auf Kron und aktivierte ihn nach einem kurzen Moment der Unentschlossenheit. Als das Gerät die Informationen direkt in sein Bewußtsein sandte, war er verwirrt und beruhigt. Dann drehte sich der Magier langsam um seine Achse, den Sextanten in der Hand.
„Nichts. Zumindest nicht in der Nähe", sagte er schließlich. „Du hattest recht mit deiner ersten Analyse, Will. Unser Freund trägt kein Dämonenmal. Das Amulett ist wirklich verflucht, allerdings weiß ich nicht, welche Fähigkeiten ein 'Besetzer' hat."
Seine Gefährten schüttelten ratlos die Köpfe.
„Nie gehört", murmelte Telsek.
„Na gut. Die Verbindung zwischen dem Amulett, dem Besetzer und Kron ist ziemlich komplex, und ich vermute einmal, daß Buualgathor diese starke Verbindung gespürt hat und benutzen will", erklärte Dryan.
Draußen scharrte es, dann erklang etwas wie ein Schrei aus einer vertrockneten Kehle. Will schlich zur Tür und warf vorsichtig einen Blick hinaus.
„Einer von den Untoten ist von den Ranken erwischt worden. Die anderen kümmert es nicht. Aber irgendwann werden sie uns erwischen, also laßt uns überlegen, wie wir hier wegkommen."
Flüsternd einigten sich die Gefährten auf die weitere Vorgehensweise.
„Solange wir nicht wissen, was geschieht, wenn wir Kron das Amulett abnehmen, lassen wir es lieber da wo es ist", sagte Will.
Telsek und Dryan nickten.
Dann ergänzte der Krieger: „Wir schaffen ihn nach Haven. Heimlich. Das Ding da ist der Beweis, daß er halbwegs sauber ist."
„Und wer soll ihm das Amulett dann abnehmen?"
Der Elf war skeptisch, daß in der Schatzsucherstadt ein Fluch nicht als ebenso gefährlich angesehen wurde wie ein Dämonenmal. Dazu hatten die Havener schon zu eigenartige Sachen aus der Vergessenen Stadt herauskommen sehen.
„Hiermon. Wir müssen Kron nur unbemerkt zu ihm bringen. Und dem Alten wahrscheinlich ein schönes Schweigegeld zahlen", flüsterte Will.
„Ich weiß nicht. Er ist nicht sonderlich gut auf Kron zu sprechen, ebenso wie Brenula. Warum sollten sie ihm helfen?"
Der Magier hatte immer noch große Bedenken.
„Können wir ihn nicht woanders hin ..."
Er verstummte. Alle Zauberkundigen, die genug wußten, um einen Dämonenfluch aufzuheben, lebten in unerreichbaren Entfernungen, wenn man Krons Zustand bedachte.
„Oder wir finden doch den Dämon. Wenn wir den umbringen, müßte das Problem doch gelöst sein", fragte Telsek.
Will nickte, aber Dryan zuckte mit den Schultern: „Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich, daß das klappt. Ich wage zu bezweifeln, daß wir diesen Besetzer erwischen, bevor der Dämonenjäger in die Nähe kommt. Schließlich ist das ja der Sinn dieser Falle."
„Dafür gibt es keinen Beweis. Versuche nicht, die Logik von Dämonen nachzuvollziehen, so kannst du gar nicht denken", erwiderte Will. „Vielleicht ist alles auch ganz anders. Laßt uns Kron erst einmal hier wegbringen, alles andere werden dann sehen."
So wurden die fruchtlosen Überlegungen erst einmal beendet. Will griff sich die Säcke, die von den Kadavermenschen unbeachtet in ihrer Ecke standen und Telsek warf sich den bewußtlosen Ork über die Schulter. Der Körper war erschreckend leicht.
Dryan riß die Vordertür auf und stieß einen wilden Schrei aus. Als die Untoten sich ihm zuwendeten, schoß ein eiskalter Sturm auf sie zu. Die Kadavermenschen, die nicht mit einem magischen Angriff gerechnet hatten, wurden in das Feuer oder in die Ranken gewirbelt. Der einzige von ihnen, der nicht sofort aus dem Weg geschleudert worden war, taumelte nach einem Faustschlag Wills in die Hecke und wurde von den dornigen Ranken umschlungen wie die anderen.
Als diese Bedrohung ausgeschaltet war, stürzten sie Gefährten mit der gleichen Methode durch die Hecke, mit der sie auch beim ersten Mal hindurchgekommen waren und auch den Pflanzenteppich der Kriegsgebiete bezwungen hatten.
Mit freundlichem Widerwillen gestand sich der Krieger ein, daß ohne die Zaubersprüche von Will und Dryan keine Möglichkeit bestanden hätte, wenigstens irgend etwas für Kron zu tun. Trotz der zusätzlichen Belastung standen sie nach wenigen Minuten außerhalb der Dunkelzone. Von der Erschöpfung und der Ratlosigkeit der letzten Stunden war nichts mehr zu spüren, als die Gefährten sich auf den Weg in Richtung Haven machten.

Der Besetzer erwartete sie in der Dämmerung auf einem kleinen Platz zwischen den Ruinen von Wohnhäusern, die schon lange erforscht und geplündert waren. Die Tore des sicheren Havens lagen in Rufweite und hier waren schon Hunderte von Abenteurern und Forschern durchgekommen. Es war fast schon sicheres Gelände. Fast ...
Als die Gefährten sich den gutgekleideten Kadavermenschen aus dem Zelt und dem aristokratischen Zwerg gegenübersahen, wußten sie, daß keiner der Torwächter ihnen zu Hilfe kommen würde. Es war schon zu viel Böses aus der Vergessenen Stadt gekrochen.
Der Troll und der Obsidianer ließen ihre Lasten vorsichtig zu Boden gleiten.
„Lange nicht gesehen", sagte Garagund Daragast oder besser das, was noch von ihm übrig war.
Äußerlich mochte er immer noch das intrigante und gefürchtete Mitglied des Häuserkonklaves der Stadt Vivane sein, aber sein Gesicht zeigte, daß er, wenn überhaupt, nicht mehr allein über seinen Verstand herrschte. Hatte sich der Zwerg in seiner Machtgier selbst dem Dämon verschrieben oder war er von diesem überrumpelt worden? Wahrscheinlich würde es nie jemand herausfinden, aber es war auch unwichtig. Selbst wenn die Gefährten Freunde von Daragast gewesen wären, hätten sie ihn nicht retten können. Die ganz roten Augen mit den geschlitzten Pupillen und die Fangzähne aus Orichalkum, die aus seinem Bart hervorblitzten, waren das eindeutige Zeichen einer endgültigen Verschmelzung.
Telsek, Dryan und Will blieb sowieso nichts anderes übrig, als sich zu wehren. Daragast hob die Hände und eine Welle von Entsetzen schlug über ihnen zusammen, während die Untoten angriffen. Die Gefährten überstanden die Panikattacke jedoch ohne größere Probleme; vielleicht waren sie einfach zu müde, als daß die Ängste bis in ihre Köpfe und Herzen vordringen konnten.
Mit einem geschickten Kreuzschlag der magischen Axt trennte Telsek dem ersten Angreifer die Arme vom Leib. Natürlich floß kein Tropfen Blut, nur die Knochenstümpfe ragten aus dem grauen Fleisch des Kadavermenschen. Stumpfsinnig wie ein Falschmensch stürzte sich der Untote im Blutrausch auf den Krieger, ohne zu bemerken, daß er gar keine Möglichkeit mehr hatte, seinem Gegner zu schaden.
Telsek achtete nicht mehr auf ihm, sondern schwang seine Axt gegen die nächsten drei Kadavermenschen.
Dryan versuchte währenddessen ihren stärksten Gegner, den dämonischen Magier, außer Gefecht zu setzen. Eine hammerähnliche Waffe aus purem Licht erschien in seiner Hand, grün funkelnd. Der Elf schleuderte sie in Richtung von Daragast, der zwar ausweichen konnte, jedoch wenigstens in seiner Konzentration gestört worden war - Dryan war sich sicher, daß der Dämon versucht hatte, einen von ihnen zu häuten. Der Hammer traf jedoch einen der Untoten, der in einem grünen Funkenregen in Einzelteile zerrissen wurde.
Mehr Erfolg hatte Will, als er mit Hilfe der Flamme von Kegels Schwert einen Feuerball wirkte. Der Dämon wurde von gleißenden Flammen eingehüllt, sein Bart und sein Haar loderten hell auf. Auch vier der Kadavermenschen zerfielen zu Asche. Als die Flammen jedoch verloschen, konnte der Obsidianer ein erschrockenes Keuchen nicht unterdrücken.
Scheinbar unbeeindruckt von der Glut stand Daragast immer noch aufrecht vielleicht zwei Dutzend Schritte vor ihnen. Aber er hatte kein Gesicht mehr. Die Haut war verbrannt und unter der Asche kam ein nackter Schädel aus Orichalkum zum Vorschein, in dem die roten Augen rollten. Die spitzen glänzenden Zähne schienen zu einem Grinsen erstarrt. Und diese entsetzliche Gestalt griff schon wieder an.
Wenn die Gefährten nicht riskieren wollten, daß der Dämon dazu kam, seine Kräfte anzuwenden oder einen zerstörerischen Spruch zu wirken, mußten sie ihn gleichzeitig und direkt bekämpfen.
Keiner der drei achtete mehr auf die Krallen der Kadavermenschen, die ihnen tiefe Wunden ins Fleisch rissen, als sie auf den ehemaligen Zwerg zustürzten. In der Hand der Dämons erschien das Gegenstück zu Dryans magischen Hammer und traf Will an der rechten Schulter. Der Obsidianer wurde zurückgeschleudert, seinen Arm konnte er nicht mehr gebrauchen. Aber Will biß die Zähne zusammen, um die gesplitterten Knochen und die zerfetzten Muskeln konnte er sich später kümmern. Und das Schwert konnte er genauso gut mit links führen. Weiter.
Telsek und Dryan hatten Daragast inzwischen erreicht und schlugen mit Axt und Kampfstab zu. Der Dämon kam nicht mehr dazu, einen Zauber auszusprechen. Aber auch den beiden ging es nicht sonderlich gut, sie bluteten aus mehreren Wunden, die von den Kadavermenschen und dem offensichtlich mit magischem Frost belegten Kurzschwert Daragasts geschlagen worden waren.
Als Will das Handgemenge erreichte, ertönte hinter ihm ein wildes Heulen, das sich rasch näherte. Der Elementarist war nicht mehr wendig genug, um rechtzeitig zu reagieren. Ein Schlag traf ihn in den Rücken, allerdings war dieser nicht stark genug, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Telsek sprang auf seinen Freund zu und schlug mit der Faust über dessen Schulter hinweg. Es krachte kurz, dann wandte er sich wieder dem Dämon zu.
Zu dritt gelang es ihnen endlich, Daragast zu bezwingen. Die roten Augen in dem unheimlich Schädel verloren unter den wilden und verbissenen Schlägen ihr Glühen, dann zerfiel der Körper des Zwerges. Nur der Schädel und die Wirbelsäule aus Orichalkum blieben auf dem aufgerissenen und mit Ruß bedeckten Pflaster übrig.
Mit angewidertem Blick trat Dryan auf die Wirbel, die sich noch wie eine Schlage in letzten Zuckungen wanden, während Telsek mit schweren Armen die vier verbliebenen Kadavermenschen niedermachte und Will mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden sank. Sie hatten um ihr Leben und ihre Seelen gekämpft und nur mit der Kraft der Verzweiflung gesiegt.

Endlich hatte Telsek Gelegenheit, nach Kron zu sehen. Das Gesicht des bewußtlosen Orks zierte ein riesiger Bluterguß, aber trotzdem wirkte es gesünder als vorher.
„Wird langsam zur Gewohnheit, Freunde und Bekannte niederzuschlagen", brummte der Troll, dann griff er Kron unter die Achseln und zerrte ihn die nächststehende Ruine.
Dryan half Will auf die Beine und humpelte gemeinsam mit dem stöhnenden Obsidianer hinterher. Dabei spuckte er schaumiges Blut aus. Er wagte nicht auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging - wenn jetzt der Jäger auftauchte, hatten sie keine Chance. Sogar ein kleiner Huscher könnte sie überwinden und außerdem war es fast dunkel.

Aber es blieb alles ruhig in den nächsten Stunden. Sie hatten Wills Schulter verbunden und der Obsidianer war in heilenden Schlaf gefallen. Ebenso schien Krons Bewußtlosigkeit entspannender Ruhe gewichen zu sein.
Dryans und Telseks Wunden waren nicht so schwer gewesen, so daß etwas Wasser aus dem Schlauch und ein paar saubere Leinentücher ausreichten. Nur noch ein paar Tage Ruhe fehlten ihnen jetzt noch.
Aber im Moment konnten sie die wenigen hundert Schritt bis nach Haven nicht bewältigen. Kron und vor allem Will ließen sich nicht transportieren, selbst wenn Dryan fliegen würde. Außerdem blieb das Tor nach Parlainth aus gutem Grund nachts geschlossen. Also würden sie die Nacht, die hoffentlich letzte Nacht in den Kleinen bleiben müssen.
Der Elf hielt Wache bei Will und Kron, Telsek sammelte im Licht des Leuchtquarzes die fallengelassene Ausrüstung und Beute des Kampfes ein.
„Nehmen wir den Schädel mit?", fragte er den Elf, als er das dritte Mal von draußen kam.
„Ja. Denk an unseren Kamin. Außerdem ist das ein Beweis dafür, daß Krons Fluch endlich aufgehoben ist. Sein Amulett hat sich auch einfach aufgelöst. Aber faß das Ding nicht mit der Hand an, am besten du wickelst es in ein Tuch."
Telsek nickte, dann verließ er noch einmal müden Schrittes die Ruine.

Als die Sonne durch den ewigen Dunst drang, weckte Dryan die anderen. Der Elf hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah beunruhigt aus. Auch Telsek und Will wirkten nur wenig erholt, Kron allerdings schien das erste Mal seit Wochen wieder richtig wach zu sein.
„Freunde! Ich weiß nicht ..."
Dem Ork versagte die Stimme. Er breitete die Arme aus, als wollte er alle drei gleichzeitig umarmen, dann begann er lauthals zu lachen, während ihm Tränen in die Augen traten.
„Was soll ich ..."
„Wir müssen schleunigst weg", unterbrach ihn Dryan. „Schnappt euch die Sachen und dann los. Da draußen ist irgend etwas."
Will und Telsek fragten nicht weiter, sondern taten wie ihnen geheißen. Auch Kron schien seine alte Vorsicht und Selbstbeherrschung wiedergefunden zu haben. Ohne eine weitere Äußerung griff er nach dem Bündel, zu dem die brauchbaren Reste der Kadavermenschen verschnürt waren und, nach einem fragenden Blick, nach Daragasts Kurzschwert.
Als alle drei nickten, flüsterte der Ork: „Danke!"
Dryan vorneweg, hinter ihm Will und Kron und zuletzt Telsek, verließen sie die Ruine. Weit und breit war im dünnen morgendlichen Nebel nichts zu sehen. Und auch nichts zu hören, nicht einmal ein leises Rascheln oder ein fernes Heulen. Und das war das Beunruhigende.
Die vier fielen in einen schnellen Schritt, immer damit rechnend, daß zwischen den Ruinen hervor jemand oder etwas auf sie losstürzen würde.
Aber die Passionen waren immer noch mit ihnen. Innerhalb weniger Minuten hatten sie die Kleinen hinter sich gelassen. Als Will gegen das schwere Tor hämmerte, wurde es sofort geöffnet. Hakenhufs fröhliche Miene, als er der Gefährten ansichtig wurde, wich Verärgerung.
„Der Alte wird sich freuen, daß ihr den Besessenen eingefangen habt."
Der Ork winkte seinen Mitarbeitern, die Anstalten machten, Kron zu entwaffnen. Ohne den Hauch eines Protestes wollte der Dieb das Schwert übergeben, als Dryan die Hand hob.
„Wir bürgen für unseren Freund. Wir sind gerade auf dem Weg zu Torgak, um alle Mißverständnisse zu klären. Bis dahin nehme ich das Schwert, es ist schließlich unsere Beute."
Der Elf strahlte trotz seiner Erschöpfung eine ruhige Autorität aus, so daß die Wächter wieder von Kron zurücktraten. Hakenhuf murmelte zwar etwas vor sich hin, was nach späterem Ärger klang, aber auch er ließ die vier passieren, jedoch nicht ohne ihnen mißtrauische Blicke und zwei schwerbewaffnete Zwerge hinterherzuschicken.
Aber die vier gingen wirklich direkt zu Torgaks Laden, obwohl vor allem Dryan lieber zuerst ein heißes Bad im Ruhelosen Troll genommen hätte.
Das imposante Gebäude schüchterte die Freunde allerdings nicht ein, vor allem, seit sie die Ruinen der Vorbilder des Hauses in den Mausoleen gesehen hatten. Auf frischgebackene Abenteurer, die noch nie eine Stadt theranischen Stils besucht hatten, verfehlte Torgaks Laden mit all den Säulen, dem Marmor und den Heldenstatuen jedoch nie seine Wirkung.

Nach einer Stunde waren endlich alle in Torgaks privatem Büro versammelt, die an Krons Verhalten (und vor allem an Schadensersatz oder Vergeltung) interessiert waren. Hiermon und Brenula waren am ehesten bereit, dem Ork seinen Ausfall nachzusehen, Vardeghol war durch Dryans Bezahlung zwar befriedigt, konnte jedoch ihre Neugier nicht verbergen.
Am schwierigsten war es, den alten Troll zu beruhigen, der nicht darüber hinwegkam, daß jemand aus seinem Gefängnis entkommen war. Und Krons Erklärung blieb zum Teil nebulös, was nur die Gefährten verstehen konnten.
Aber Hiermon bestätigte mit Hilfe des Astralsextanten, daß der Dieb keine Spur von Dämonenverseuchung aufwies, und das Besetzerskelett und die Erklärung von Dryan zu Krons Fluch überzeugte den alten Magier endgültig. Dryan wiederholte noch einmal seine Bürgschaft und Kron bat formvollendet um Entschuldigung. Außerdem boten die Gefährten Torgak die Bruchstücke der Jademenschen zu einem absoluten Vorzugspreis an.
So ließ er sich wenigstens von der Hinrichtung abbringen, aber er verbannte den Ork auf Lebenszeit aus Haven und Umgebung.
Nur Vardeghol war noch nicht zufrieden. Die T'skrang war zu schlau, um nicht zu bemerken, daß noch etwas mehr hinter der Geschichte von einem gefundenen Amulett und einem unbekannten Dämon steckte, als Kron und seine Freunde erzählt hatten. Aber sie war auch gerissen genug, um nicht weiter nachzubohren. Irgendwann würde diese Abenteurergruppe garantiert wieder nach Parlainth wollen, ebenso wie alle anderen. Und Vardeghol verkaufte die zuverlässigsten und neuesten Informationen, natürlich nicht nur für Geld.

Kurz darauf saßen Dryan, Telsek, Will und Kron in einem kleinen separaten Speiseraum im Ruhelosen Troll. Tylia war trotz ihres Auftretens eine gutmütige Frau und hatte den vieren trotz Krons Verbannung ein Quartier für den Rest des Tages und die folgende Nacht angeboten, damit sie sich wenigstens etwas erholen konnten. Bei Sonnenaufgang mußte der Ork jedoch verschwunden sein, denn selbst als Torgaks beste Freundin und Gefährtin alter Abenteuer konnte und wollte sie sich nicht mit dem Stadtoberhaupt anlegen.
Das Essen war hervorragend, wie sogar der wählerische Elf zugeben mußte, der sich nach dem Bad erheblich besser fühlte. Auch Kron sah frisch gewaschen und neu eingekleidet wieder ganz gut, wenn auch ziemlich abgemagert aus. Der Dieb aß ein wenig, nahm einen kräftigen Schluck aus dem Bierkrug und begann zu erzählen - soweit er es wußte oder sich in den klaren Momenten zusammengereimt hatte.

Vor etwa vier Monaten lief in Vivane ein Gerücht über eine weitere Aktion gegen den Widerstand um. Kron hatte selbstverständlich versucht, diesem Gerücht auf die Spur zu kommen. Die einzige Spur, die er fand, führte zu Garagund Daragast.
Kron nahm an, daß der Zwerg mit einem Erfolg gegen den Widerstand seine Position im Häuserkonklave stärken wollte. Auf jeden Fall war es Krons Aufgabe, das Gerede zu überprüfen, ohne jedoch Panik unter seinen Mitkämpfern zu erzeugen. Bei dem Gedanken an das oft von Verfolgungswahn geprägte Verhalten von Thomalas Janrud war die Geheimhaltung, um die sich der Ork bemüht hatte, für die Gefährten verständlich.
Jedenfalls war Kron eines Nachts in Daragasts Kontor eingebrochen, um nach eventuellen Beweisen für einen Schlag gegen den Widerstand zu suchen. Er fand nichts, was auf Verrat deutete.
„Aber in einer Schublade lag dieses Amulett."
Kron hob die Schultern, als könne er es selbst nicht erklären.
„Ich stehle eigentlich schon lange nicht mehr einfach irgend etwas. Und es sah nicht einmal wertvoll aus. Ich weiß immer noch nicht, was in mich gefahren ist, ich mußte es einfach umlegen. Was dann passiert ist, kriege ich nur bruchstückweise zusammen. Ich muß das Büro ziemlich zu Kleinholz zerlegt haben. Als ich wieder ruhiger wurde und klar sehen konnte, stand der Zwerg in der Tür. Er lächelte und seine Augen hatten einen roten Schimmer, als er mich einfach fortschickte.
An die folgenden Tage kann ich mich nur teilweise erinnern. Ich glaube, ich habe ein paar Freunde ziemlich mies behandelt. Gandrick war der Einzige, der mir geglaubt hat, daß ich Aussetzer hatte. Aber ..."
Krons Schuldbewußtsein wich einem grimmigen Stolz.
„Ich habe niemanden getötet, obwohl irgend etwas in mir ständig danach verlangte. Ich nehme an, daß dieser Magier versuchte, einfach irgend jemanden dazu zu bringen, den Widerstand von unten zu zerstören. Daragast war sich wohl nie sicher, ob er einen von uns erwischt hatte, aber er konnte im Notfall seine Hände in Unschuld waschen.
Gandrick gab mir dann die Möglichkeit und auch Geld, um nach Hilfe zu suchen. In Märkteburg hat mir dann ein alter Veteran von Heilungsartefakten erzählt, die hier zu finden sein sollten.
Aber die Anfälle wurden immer schlimmer. Nach ein paar Versuchen, jemanden zu finden, der mit nach Parlainth kommt, bin ich dann auf eigene Faust losgezogen und eine Truppe von Untoten hat mich eingefangen. Was die nun wollten, weiß ich nicht. Und dann seid Ihr gekommen."
Wieder fiel es Kron schwer, seine Dankbarkeit auszudrücken, aber die Freunde wehrten auch jeden Versuch des Diebes ab. Will schlug die einfachste Lösung für eine Belohnung vor - Kron sollte einfach über ihre Namen schweigen. Vor allem für Dryan, dessen Vater noch immer in theranischen Regierungsdiensten stand, war es wichtig, daß seine Verbindungen zu der Widerstandsgruppe in Vivane niemals ruchbar wurden. Aber selbst Kron wußte nicht, wie tief Will und Dryan in die antitheranische Bewegung verwickelt waren.
Nur Telsek hatte kein Problem damit, sich auch öffentlich gegen Thera auszusprechen, aber auch er schwieg über die Nebentätigkeit seiner Freunde.

Alle waren erschöpft und die weichen Betten Tylias lockten. Es war erst Mittag, aber dennoch verabschiedeten sich die vier voneinander, um einen Teil ihrer Kräfte durch ungestörten Schlaf wiederzugewinnen.
Als Will und Telsek am nächsten Morgen erwachten, legte ihnen Dryan schweigend einen kleinen Zettel hin.

Habt noch einmal Dank, Freunde, für die Rettung und Euer Vertrauen! Ich muß auf dem schnellsten Wege zurück und ein windiger Typ hat mir für den Abend eine Luftschiffpassage nach Travar angeboten. Seid nicht böse, daß ich mich nicht verabschiede. Falls Ihr wieder in der Nähe seid, wißt Ihr ja, wo ihr mich findet.
Kron



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