1. Kapitel


Kaliyas Rettung




Nach drei Tagen hatten sich die Gefährten von ihrer Erschöpfung und ihren Verletzungen erholt. Die Auseinandersetzung mit dem Besetzer war nur mehr ein weiterer Punkt auf der Liste ihrer Heldentaten. Eine wandernde Bardin hatte sich im Ruhelosen Troll alles erzählen lassen und versprochen, ihren Ruhm im ganzen Land zu verbreiten.
Bei dieser Ankündigung der jungen Orkin mußten Telsek und Dryan lachen; Will bewahrte seine undurchsichtige Miene. Irgendwann würde es sicherlich Probleme geben, wenn sich ihr Ruf zu weit verbreitete. Zumal in den Liedern ja immer wieder verschwiegen wurde, daß auch Helden Mißerfolge haben oder gar sterben können. Mochten die Passionen den Seelen von Thas und Dwalin gewogen sein …
Während Telsek die Ruhezeit vor allem nutzte, sich einmal gründlich auszuschlafen - er ließ sich eigentlich nur zu den Mahlzeiten sehen -, zogen Will und Dryan durch Haven und sammelten Informationen.
Will fand einen Elementaristen, der mit einer Abenteurergruppe in die Windungen wollte und in der Vorbereitungszeit bereit war, dem Obsidianer ein paar neue Sprüche beizubringen. Außerdem holte er noch alle Gegenstände aus Daragasts Zelt, die sich zu Geld machen ließen.
Der Elf hingegen handelte bei Torgak um eine Orichalkumflasche voll elementaren Wassers (der Preis war wie immer unverschämt), kaufte Vardeghol ein paar neue Schriftrollen ab und diskutierte nächtelang mit Hiermon über die Struktur von Zaubersprüchen.
Die Zauberkundigen lächelten insgeheim über Telseks Faulheit, aber keiner der beiden bemerkte, daß der Krieger in seiner Kammer komplizierte Waffenübungen durchführte und stundenlang über Lorms Axt und dem frostigen Kurzschwert Daragasts meditierte. Und außerdem schrieb der Troll lange Briefe an seine Familie, obwohl er nicht sicher war, ob sie ihr Ziel jemals erreichen würden. Die Wege durch Barsaive waren immer noch sehr unsicher. Manchmal fragte sich Telsek, ob das jemals anders werden würde. Wahrscheinlich würde er es nie erleben.
Am vierten Tag war es beim Abendessen wieder so weit. Ohne lange Erörterungen war klar, daß sie weiterziehen würden.
"Kaliya wartet auf uns", stellte Will einfach fest und die Gefährten nickten.
Dryan fuhr fort: "Ich habe bei Tylia ein paar Rationen bereitstellen lassen. Wir können morgen aufbrechen."
Die Eckzähne von Telsek blitzten wie immer beim Grinsen.
"Und ich habe genug über das Schwert herausbekommen, um zu wissen, daß wir es nicht brauchen. Vielleicht sollten wir es an Torgak verkaufen und ordentlich Geld herausschlagen. Wir hatten eine Weile keinen lukrativen Auftrag."
Er legte das bläulich funkelnde Schwert auf den Tisch.
Die Zauberkundigen starrten ihn mit großen Augen an.
"Was ist damit?" fragte Dryan.
"Ein schlichter Kältezauber. Ansonsten ist es ein einfaches Kurzschwert, macht aber etwas her. Der alte Gierhals wird es gern nehmen. Und dann haben wir genug Geld für unterwegs."
Dryan schlug seinen beiden großen Freunden auf die Schultern.
"Dann brechen wir morgen früh wieder auf."
"Klar", erwiderte der Telsek und Will nickte knapp.
Allerdings ließ sich Dryan nicht nehmen, Telseks Behauptung über Daragasts Schwert nachzuprüfen. Der Krieger ließ ihn grinsend gewähren. Er wußte, daß er keine Magie brauchte, um eine Waffe zu erkennen. Sollte der Elf doch seinen Willen haben und das Schwert astral untersuchen.
"Was haltet ihr davon, noch einmal zum Blutwald zu gehen?" fragte Dryan. "Wir sind sowieso in der Richtung unterwegs und Hiermon hat ein paar interessante Ideen über elementares Holz mit mir besprochen."
Diesmal mußte sogar Will lächeln.
"Eine neue Theorie, mein Freund? Wenn du etwas Zeit hast, solltest du doch endlich mal deine Nase in ein Studium der Alchimie stecken. Aber du hast recht. Wir haben nichts anderes vor und die Rose gilt noch ein paar Monate. Was sagst du, Telsek?"
"In Ordnung. Aber daß eines gleich klar ist - wir fliegen nicht die ganze Zeit."
Die Zauberkundigen nickten resigniert. Dann gingen sie auf ihre Zimmer und packten die Rucksäcke, während Telsek sich noch ein Bier kommen ließ und der Wirtin Tylia schöne Augen machte. Sein Gepäck stand schon seit dem vorigen Abend bereit.

Kurz nach Sonnenaufgang verließen die Gefährten Haven, nachdem sie das Schwert bei Torgak losgeworden waren. Telsek hatte recht, der Troll zahlte für die Runen und den blauen Schimmer erheblich mehr als nötig. Die Freunde waren sich jedoch sicher, daß er beim Weiterverkauf trotzdem einen guten Schnitt machen würde, wenn er die Waffe nicht gerade einem Adepten aufschwatzen wollte. Aber die Durchschnittsabenteurer, die immer wieder wie die Fliegen in Parlainth einfielen, würden keine Schwierigkeiten machen. Und so lange sie nicht mehr von dem Schwert erwarteten, als böse schmerzende, eiskalte Wunden beim Gegner, konnte es ihnen auch nicht schaden.
Als sie außer Sichtweite der Stadt waren, beschwor Will seine Feuerelementare. Bis Simolda wollten die Gefährten noch in den Flammenrikschas fahren. Und vor allem Dryan hoffte, den Troll auch danach zum Weiterflug überreden zu können, selbst wenn ihnen kein Termin auf den Nägeln brannte.

Am zweiten Tag ihrer Reise machte ein plötzlicher Wolkenbruch, der in einen grauen, gleichmäßigen Dauerregen überging, ihre Flugpläne zunichte.
"Dein Glück, daß uns deine … Viecher noch lebendig abgesetzt haben", schimpfte Telsek und schüttelte das Wasser aus seinem schwarzen Haar. "Ich hätte dir sonst …"
Er winkte ab.
Dryan war immer noch etwas bleicher als sonst. Die Feuergeister hatten sich in zischende Dampfwolken aufgelöst und würden so schnell nicht wiederkommen. Sich selbst hätte der Magier mit einem schnellen Zauber noch vor einem tödlichen Sturz bewahren können, aber seine Gefährten … Der Krieger wäre nicht mehr dazu gekommen, Will irgend etwas anzutun. Den Passionen sei Dank, daß die Flammenrikschas nicht sehr hoch geflogen waren.
Der Elementarist sagte nichts. Er stand auf einem Hang und beobachtete die Umgebung. Sie waren südlich der Handelsstraße zwischen den nördlichen Ausläufern der Caucaviaberge gelandet, da Will versucht hatte, in möglichst gerader Linie zu dem alten Kaer zu gelangen. Wenn sie am Fuß der Berge blieben und nichts dazwischen kam, konnten sie auch per pedes in drei oder vier Tagen am Ziel sein.
Will zuckte in stoischer Ruhe die Schultern.
"Nichts Gefährliches zu sehen. Alte Marschordnung", sagte er und setzte sich in Bewegung.
Telsek warf sich seinen Rucksack über die Schulter und folgte ihm - Dryan glaubte, ein leichtes Lächeln im Gesicht des Kriegers zu sehen. Hatte der alte Dickkopf doch seinen Fußmarsch bekommen! Seufzend schloß der Elf seinen wasserdichten Umhang und beeilte sich, die Gefährten einzuholen.
Keiner der drei bemerkte den kleinen Hügel, der sich hinter ihnen im dichten Regen in einer der Rinnen, die das Wasser in die sanft geneigten Hänge gewaschen hatte, aufwölbte.
Ein plötzliches, nervenzerfetzendes Kratzen ließ die drei herumfahren.
"Nicht zaubern!" schrie Telsek, der die scharfen Grabklauen und den wie eine Schaufel geformten Kopf der Kreatur sofort erkannt hatte.
Aber es war bereits zu spät. Der Volus hatte die Magie der Waffen und sonstigen verzauberten Gegenstände schon längst geortet, sonst wäre er nicht direkt unter der Stelle aufgetaucht, an der Dryan gerade noch gestanden hatte. Nur einen Augenblick früher und der Elf wäre in der aufgewühlten Erde verschwunden.
Das auf magische Ausstrahlung reagierende Raubtier war zum Glück oberhalb der Erdoberfläche schwerfällig. Normalerweise griffen Voli immer nur von unten an, aber das mit dicken, unregelmäßig geformten Chitinplatten bedeckte Wesen wollte nicht von seiner einmal georteten Beute ablassen, die gerade auf einem Felsen stand.
Telsek schwang seine Axt gegen den fast fünf Schritt langen Angreifer und mußte entrüstet zur Kenntnis nehmen, daß die verschiedenfarbigen Schuppen härter als eine Panzerrüstung waren. Der Volus stieß einen wütenden Laut aus, der wie eine Mischung aus Fauchen, Knarren und Zischen klang. Der zweite Schlag des Kriegers traf besser, die Klinge der Axt fuhr zwischen zwei der Platten an einer Schulter der Kreatur. Diesmal ging das das Fauchen in ein Kreischen über. Der Volus hieb mit der unverletzten Vorderklaue, die länger als Telseks Arm war, nach dem Troll. Der rettete sich mit einem geschickten Sprung aus der Reichweite der dicken langen Krallen. Die Grabklaue hätte ihn allerdings erwischt, wenn die Wunde das Tier nicht behindert hätte.
Dryan schleuderte einen Zerschmettern-Zauber, der gleichzeitig mit Wills Feuerball das Raubtier traf. Beide hofften, daß die Magieanwendungen nicht weitere Voli auf den Plan riefen, allerdings war Matrizenzauberei selbst für diese Kreaturen nicht leicht zu orten.
Der Troll trat kopfschüttelnd zu den rauchenden Überresten des magischen Raubtieres.
"Nicht sehr geschickt von euch", sagte er und rümpfte die Nase wegen des Gestankes von verbranntem Fleisch.
Dryan war empört.
"Was soll das heißen? Das Vieh ist tot, wir wären es doch sowieso nicht mehr losgeworden. Das hätte uns auch ohne Magie nicht von seiner Speisekarte gestrichen."
Der Elementarist stimmte zu: "Ich habe von diesen Voli gehört. Unsere Ausrüstung hat schon ausgereicht."
Wieder schüttelte Telsek den Kopf.
"Und ihr seid die großen Zauberkundigen, ha! Das Spürorgan von dem Monster ist mindestens dreihundert Silber wert und ihr schmort einfach alles zusammen. Was meint ihr, warum ich nicht auf den Hals geschlagen habe?"
Der Elf stöhnte stumm auf. Der Krieger hatte recht; und außerdem war Dryan doch derjenige, der außergewöhnliche Gegenstände sammelte. Er hatte einfach nicht mehr an die Beschreibung in seinem Buch gedacht.
Inzwischen hatte sich Will in der Gegend umgesehen. Die wenigen Gruben, die unauffällig in den Rinnen zwischen den Hügeln lagen, ließen vermuten, daß der Volus der Einzige in dieser Gegend war.
"Es ist nicht mehr zu ändern", sagte er schließlich, unerschütterlich wie fast immer. "Laßt uns weitergehen."
Telsek grummelte weiter leise vor sich hin, während er zielstrebig durch den Regen nach Westen stapfte.
"Er beruhigt sich schon wieder", versuchte der Obsidianer Dryan aufzumuntern.
Der Elf winkte ab.
"Ich ärgere mich mehr über mich selbst. Aber komm, sonst ist unser Freund über alle Berge."

Telseks Orientierungssinn hatte ihn nicht getrogen. Am Abend des dritten Tages tauchte nordwestlich der Felsbogen auf, unter dem das Kaer Simolda immer noch auf das Ende der Plage wartete.
Als sie sich der Formation näherten, stellte die Gefährten mit Erstaunen fest, daß das Loch im steinigen Boden verschwunden war. Dryan untersuchte die Umgebung und staunte.
"Sie haben die Runen am Bogen erneuert. Der Einstieg ist übrigens noch da, allerdings gut getarnt und magisch versiegelt. Vielleicht kann ich …"
Ein Knistern rötlicher Funken umgab den Elf, der einen Schritt auf den Bogen zugegangen war. Dryan sprang sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück.
"Ist alles in Ordnung?" erkundigte sich Will, während Telsek leicht schadenfroh grinste.
"Ja, ja, war nicht so schlimm. Es war mehr der Schreck."
Der Elf warf dem Troll einen giftigen Blick unter hochgezogenen Brauen zu.
Telsek hob mit unschuldiger Miene die Hände.
"Du hast doch selbst gesagt, daß die Runen erneuert sind …"
"Du hast ja recht", gab Dryan zu.
Er hätte wirklich vorsichtiger sein sollen. Aber seine Neugier hatte wieder einmal über seine Besonnenheit gesiegt.
"Ich werde das Siegel entschärfen."
"Laß mich dir helfen", bot der Obsidianer an.
Telsek setzte sich auf einen Felsen und beobachtete die Zauberkundigen, die den Abwehrzauber, der auf dem Felsbogen lag, auflösten wie ein feines Gewebe. Es mußte schwierig sein; selbst Will war höchste Konzentration ins Gesicht geschrieben. Die Sonne war schon untergegangen, als sich Will und Dryan endlich so nah an die Steine heranwagten, daß sie sie berühren konnten. Der Elf verfluchte innerlich die hereinbrechende Dämmerung; er hätte die altertümlichen und wirkungsvollen Runen gern studiert. Aber vielleicht hatten sie ja noch Gelegenheit dazu, wenn sie wieder aus Simolda zurückkehrten.
"Komm, großer Kämpfer", sagte Will zu Telsek.
Der sah den Bogen mißtrauisch an.
"Meinst du wirklich, daß der Zauber aufgehoben ist?" fragte er.
Der Obsidianer lächelte.
"Das Einzige, was jetzt noch übrig ist, ist der Dämonenalarm, und das dürfte kein Problem für dich sein, oder?"
Doch der Troll war noch nicht überzeugt.
"Und wo habt ihr den Eingang gelassen?"
Diesmal lächelte Dryan schadenfroh.
"Siehst du es nicht? Der Boden ist nur eine Illusion. Jetzt mußt du dir nur noch überlegen, ob du an mir oder an dem Zauber zweifeln willst."
Telsek näherte sich vorsichtig dem Felsbogen, intensiv die Steine zu seinen Füßen musternd. Doch, der Magier hatte recht. Wenn er genau hinsah, war das Loch im Boden zu erkennen, durch das er vor nicht allzu langer Zeit gestolpert war. Eine hervorragende Illusion …
"Gut", sagte Telsek schließlich. "Aber diesmal geht ihr vor. Dann falle ich diesmal wenigstens weich."
"Und wenn du auf mich fällst?" fragte Will und versuchte, besonders felsig auszusehen. Lachend begannen die Gefährten den steilen Abstieg.

Der Gang sah immer noch so aus wie bei ihrem letzten Besuch. Jemand schien die Tunnel instand und sauber zu halten. Eigentlich kam dafür nur Kaliya selbst in Frage; sie war wahrscheinlich die Einzige, die sich aus dem Wohn- und Minenbereich des Kaers herauswagte. Mit leisem Unbehagen erinnerte sich Dryan an seine scherzhafte Frage, ob Dämonen ihre Wohnungen fegten. In diesem Falle war es ein Dämon, der sich um die Ordnung kümmerte.
"Was meint ihr, was in der anderen Richtung liegt?" fragte Will, als die Freunde sich gerade in Richtung des Kaers aufmachten.
Telsek zuckte die Schultern.
"Als ich hier runterrauschte, war alles verschüttet."
"Und wir haben dein Zeichen ziemlich schnell gefunden und sind gleich in die richtige Richtung gelaufen. Vielleicht sollten wir mal …"
Der Obsidianer unterbrach Dryan: "Später. Schieb deine Neugier noch ein wenig auf."
Der Magier nickte.
"Also erst einmal zu Kaliya."
Er hob seinen Lichtquarz und ging den Gefährten voraus.

Kurz darauf hatten die drei den Einstieg zu dem Seitenstollen, der direkt in das Kaer führte, erreicht. Die unsichere Floßfahrt auf dem unterirdischen Fluß wollte keiner von ihnen wiederholen. Die Kaerälteste hatte ihnen vor zwei Wochen den Weg gezeigt; die Flöße wurden nur für den möglichst mühelosen Transport des Erzes benutzt.
Telsek fand es erstaunlich, daß die Minen nach den Jahrhunderten des Abbaus noch so ergiebig waren. Allerdings bauten die Zwerge von Simolda das Eisen nur für den eigenen Bedarf an Werkzeugen und Waffen ab. Die meisten Bewohner des Kaers waren auch schon lange keine Bergleute mehr, sondern mit der Pflege der Terassengärten und der Betreuung der Herde zuständig. Die Nahrungsbeschaffung unter der Oberfläche war aufwendig und schwierig. Der Troll nahm sich vor, Kaliya zu fragen, welche Tiere im Kaer überhaupt gehalten werden konnten. Das Fleisch, daß sie das letzte Mal bekommen hatten, war schmackhaft, stammte aber sicher nicht von Fledermäusen oder Maulwürfen.
In der Höhle, die zum Fluß führte, waren diesmal die leisen Geräusche von Hämmern und Hacken zu hören. Also hatten die Zauberkundigen es wirklich geschafft, den Alarm, der jedes Eindringen in das Kaer meldete, auszuschalten. Die Minenarbeiten schienen allerdings in so weiter Entfernung stattzufinden und außerdem in einem Tunnel, in den sich höchstens Dryan quetschen könnte, so daß sich die Gefährten nicht darum bemühten, nach den arbeitenden Zwergen zu sehen. Sie krochen in den Zugangsstollen, wobei der Krieger und der Elementarist sich wieder heftig die breiten Schultern zerschrammten.
Zum Glück weitete sich der Tunnel nach ein paar Schritt wieder so, daß sich die beiden auf Händen und Knien fortbewegen konnte. Dryan schwebte allerdings lang ausgestreckt und den Kopf voran elegant vor seinen Freunden her.
"Das nächste Mal nehme ich doch wieder ein Floß", murrte Telsek, als sie endlich neben dem kleinen See standen, bei dem der Stollen endete.
Er besah sich mürrisch seine aufgeschürften Knie.
Will nickte.
"Ich hatte es vom ersten Mal auch nicht so schlimm in Erinnerung. Vielleicht haben wir ja zugenommen."
Der Elf teilte schweigend und lächelnd etwas Heilsalbe aus. Beim ersten Mal waren sie mehr oder weniger auf der Flucht gewesen und hatten einfach nicht auf solche Kleinigkeiten wie Hautabschürfungen geachtet. Er klopfte sich den Staub aus der Robe, die ab und zu den Grund gestreift hatte. Dann holte er tief Luft.
"Wir sollten uns vorbereiten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß uns die Zwerge freudestrahlend begrüßen, selbst wenn ihnen klar ist, daß Kaliya uns entkommen lassen hat. Oder gerade weil es ihnen klar ist."
Seine Gefährten stimmten zu. Vorsichtig durchquerten sie den schmalen gewundenen Gang, der zum Tor des Kaers führte. Dann legten sie ihre Waffen und Rucksäcke in einem verborgenen Winkel ab; nur Dryan hängte sich das Beutelchen mit der Wahren Erde an den Gürtel und schob die sicher eingewickelte Flasche Wahren Wassers in eine Tasche seiner Robe. Dann warfen sie sich gegenseitig ein paar Seitenblicke zu und holten noch einmal tief Luft. Der Elf steckte den Leuchtquarz ein und in der völligen Finsternis näherte sich die Gruppe behutsam dem großen Portal.
Wieder schwangen die massiven Türflügel lautlos nach innen, als sie sich ihnen näherten, der Angriff der Zwergenkrieger überraschte jedoch diesmal nicht. Die Zauberkundigen ließen sich widerstandslos verschnüren und knebeln, nur Telsek hatte große Mühe, sich zu beherrschen. Es widersprach seiner Art, sich ohne Gegenwehr gefangennehmen zu lassen; sein unterdrücktes Knurren brachte ihm allerdings einen derben Schlag in den Rücken ein. Schließlich wurden die drei in das bekannte fensterlose Gefängnisgebäude gebracht und wie erwartet kümmerte sich niemand um irgendwelche Gegenstände, die vor dem Portal liegengeblieben sein konnten.
Die Gesichter der Krieger machten den Gefährten klar, daß Dryan mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Die Blicke, die den Gefangenen auf dem kurzen Weg zugeworfen wurden, waren gleichzeitig haß- und angsterfüllt. Und Telsek hatte das Gefühl, daß die Zwerge, die ihre Gefangennahme beobachteten, sie am liebsten sofort getötet hätten. Die Eskorte, die sie grob durch das Kaer schleifte, schien sie gleichzeitig vor der bedrohlich schweigenden Menge zu beschützen.
Schließlich lagen sie wieder in ihrer Zelle, unsanft auf den Boden geworfen. Diesmal hatte ihnen niemand die Fesseln abgenommen und wie auch schon beim letzten Mal stellten Telsek und Will fest, daß die Lederbänder scheinbar unzerreißbar waren.
"Gebt euch keine Mühe", sagte Dryan, der sich am Scharren und an dem Stöhnen der kräftigen Männer ihre unfruchtbaren Anstrengungen ausmalen konnte.
"Hast du eine bessere Idee? Die Dinger schnüren mir das Blut ab", knurrte Telsek. "Beschwer dich nicht, du kannst ja wenigstens etwas sehen."
Der Obsidianer klang mürrisch.
"Hoffentlich kommt Kaliya bald. Sonst werde ich nicht erst in drei Tagen steif."
"Hmm", machte der Elf.
Die Gefährten verstummten. Ihnen war klar, daß sie nichts weiter tun konnten, als zu warten. Die Dunkelheit zerrte an ihren Nerven; die Zeit schien stillzustehen. Dryan schloß die Augen und versuchte, eine bequemere Stellung zu finden um zu schlafen; Will saß aufrecht und starrte in die Finsternis. Und Telsek betrachtete die rötlichen Umrisse seiner Freunde und fragte sich, ob er sich nicht doch hätte wehren sollen.

Etwa fünf Stunden waren nach ihren Schätzungen vergangen und keiner von ihnen hatte schlafen können, als sich endlich die Tür der Zelle öffnete. Kaliya war wieder ohne Eskorte gekommen; sie brachte einen Lichtquarz und einen Korb mit Lebensmitteln mit. Den Gefährten verschlug es vor Schreck die Sprache, als sie in das Gesicht der alten Zwergin sahen. Die bleiche Haut hatte einen bläulichen Ton angenommen, das glatte graue Haar war stumpf und brüchig und die Frau hatte tiefe, fast schwarze Ringe unter den Augen. Kaliya sah jetzt so alt aus wie sie wahrscheinlich war. Und ihre Stimme klang auch nicht besser.
"Seid gegrüßt", sagte sie heiser und versuchte, etwas wie ein Lächeln hervorzubringen. "Ich bringe Euch etwas zu essen."
Sie stellte den Korb ab und zog ein kleines Messer aus ihrem Gürtel. Als sie zuerst auf Dryan zuging, zuckte der Elf zurück. Wenn ihn die Fesseln nicht gehalten hätten, wäre er geflohen, aber so konnte er nur voll Entsetzen den mörderischen Ausdruck, der in diesem Moment in Kaliyas Augen getreten war, und ihren verzerrten Mund anstarren. Die besessene Zwergin schien ihren Dämon jedoch noch unter Kontrolle zu haben; sie zerschnitt Dryans Fesseln, ohne seine Haut mit der Klinge auch nur zu streifen.
Während sie sich dem Obsidianer zuwandte, setzte sich der Elf auf und rieb sich die schmerzenden Gelenke.
"Danke, Kaliya", sagte er und versuchte, trotz seines Schreckens freundlich zu klingen. "Wir sind zurückgekommen, wie versprochen, und sogar nach nicht einmal der Hälfte der Zeit. Wir können das Ritual durchführen, wenn Ihr möchtet, sofort."
Ein gurgelndes Geräusch entrang sich Kaliyas Kehle. Telsek, der seine Fesseln los war, sprang auf, aber es war nicht nötig, etwas zu unternehmen. Die Zwergin stand einfach da; die Töne schienen völlig unabhängig von ihr zu entstehen. Mitleidig legte der Troll ihr seine große warme Hand auf die Schulter und Kaliya, die sonst so distanziert war, ließ es geschehen.
Will erhob sich ebenfalls und deutete eine Verbeugung an. Fast hätte er sich höflich nach dem Wohlergehen ihrer "Gastgeberin" erkundigt, aber er biß sich rechtzeitig auf die Zunge. Was sollte er bei ihrem Anblick nur sagen?
Kaliya befreite ihn aus der Peinlichkeit. Das Gurgeln hörte nicht auf, während sie sprach.
"Ich muß Euch danken. Ihr seht ja, was mit mir los ist, viel später hättet Ihr nicht kommen dürfen."
Mühevoll setzte sie sich auf den Boden, schob den Gefährten, die ebenfalls Platz nahmen, den Korb hin und nickte ihnen aufmunternd zu. Vielleicht war es ja nicht sehr wohlerzogen, in ihrer Gegenwart zu essen, aber selbst Will knurrte der Magen. Behutsam griffen erst der Obsidianer, dann auch die beiden anderen nach den Früchten.
"Sie fürchten sich", fuhr Kaliya flüsternd fort, als der Ton in ihrem Hals endlich verstummt war. "Sie fürchten sich inzwischen mehr vor mir und dem Ding in meinem Kopf als vor anderen Dämonen. Bisher haben sie mich wie einen der Kettenhunde betrachtet, die vor der Plage die Häuser beschützt haben. Inzwischen haben sie Angst, daß die Kette reißt. Es gab einen Zwischenfall."
Sie wischte sich mit einer fahrigen Bewegung eine Strähne aus der Stirn. Dabei verrutschte ihr der Ärmel und die Gefährten sahen blutige Striemen, die sich um ihre Handgelenke wanden. Sie hatte sich daran gewöhnt, in Fesseln zu schlafen, hatte sie ihnen das letzte Mal gesagt. So wie es aussah, wurde der Dämon in ihrem Kopf immer stärker.
"Es wehrt sich", sagte Kaliya mit etwas festerer Stimme. "Es kennt jeden meiner Gedanken und jede meiner Hoffnungen. Und es ist wütend, weil ich seine Angst spüre. Dieses Ding weiß ganz genau, daß es damit mein Vertrauen in Euch nur bestärkt und das macht es noch wütender."
Sie lachte kurz und trocken, aber gleich darauf zuckte sie wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Ein schmales Rinnsal Blut lief aus ihrem Mundwinkel.
"Können wir Euch helfen, Kaliya?" fragte Will besorgt.
Doch die Zwergin schüttelte den Kopf.
"Zeigt meinen Leuten das Ritual und bringt sie hinaus hier", bat sie. "Sie sollen endlich wieder frei sein. Ich weiß inzwischen, wie es draußen aussieht; ich habe die Siegel erneuert, nachdem Ihr fort wart. Dieser Sternenhimmel …"
Kaliyas Gesicht wurde für einen Augenblick weich.
Dann stand die Zwergin wieder auf und ein Teil ihrer alten straffen Haltung war zurückgekehrt.
"Bereitet Euch vor. In zwei Stunden versammelt sich der Rat."
Mit müden Schritten ging sie zur Tür und ließ die Gefährten mit dem Korb und dem Lichtquarz allein.

Die Männer schwiegen eine Weile. Kaliyas Anblick hatte sie erschüttert und alle drei dachten mit Schaudern daran, was sie vorgefunden hätten, wenn sie später nach Simolda gekommen wären. Selbst wenn sie sich an die Frist der Zwergin gehalten hätten …
"Wir hätten doch weiterfliegen sollen", gab Telsek zerknirscht zu.
Dryan schüttelte den Kopf.
"Mach dir keine Vorwürfe, mein Freund. Wir hätten alle damit rechnen müssen, daß sich Kaliyas Dämon zur Wehr setzt. Wir wissen doch inzwischen, wie intelligent so eine Kreatur sein kann."
"Und selbst ein Hirnwühler kann lernen", fügte Will hinzu. "Ich glaube, wir haben ihn alle unterschätzt."
Der Elf nickte und seufzte tief.
"Laßt uns etwas essen, frühes Frühstück oder spätes Abendbrot. Hier unten ist es wohl schon lange unwichtig, ob es Tag oder Nacht ist. Und dann hoffen wir, daß auf der Ratsversammlung alles glatt läuft."
Will nickte, aber Telsek hatte noch eine verzagte Frage: "Könnt ihr großen Magier Kaliya helfen?"
Der Elf und der Obsidianer warfen sich einen abschätzenden Blick zu.
"Möglicherweise", antwortete Will zögernd.
Diesmal nickte Telsek, Resignation im Gesicht.
"Das habe ich mir gedacht."

Eine Gruppe schwerbewaffneter Zwerge trat in die Zelle; Kaliya war nicht bei ihnen.
"Kommt!", schnappte eine breitschultrige Frau in einer dunklen Schuppenrüstung.
Telsek fiel auf, daß diese Rüstung uralt sein mußte. Die Lederriemen waren brüchig, aber das Metall gut gepflegt. Seufzend dachte der Troll an die Ewigkeiten, die die Zwerge von der Welt abgeschnitten unter der Erde verbracht hatten.
Die Wächter nahmen die Gefährten in die Mitte und verließen mit ihnen das Gebäude. Wieder standen die Kaerbewohner an den Hauswänden und beobachteten die Gefangenen. Daß die drei ungefesselt waren, verdüsterte die Stimmung der Zwerge noch mehr. Aus vielen Augen sprach unverhohlen die Befürchtung, daß die ungebetenen Besucher das Böse in das bisher verhältnismäßig ruhige Leben der Leute gebracht hatten. Bald flogen gezischte Beschimpfungen und die ersten Steine, so daß die Eskorte die Schilde heben mußte, um ihre Gefangenen zu schützen. Vor allem Telsek und Will ragten jedoch so weit über ihre Bewacher hinaus, daß sie von einigen Wurfgeschossen getroffen wurden.
Aber die Gefährten bemühten sich, keine Miene zu verziehen und ruhig weiterzugehen. Es gab nichts, was sie sagen oder tun konnten, ohne die Situation noch schlimmer zu machen. Zum Glück war der Weg den Hang hinauf zum Ratsgebäude nicht sehr lang, so daß niemand ernsthaft verletzt wurde.
Der Troll blutete aus einer kleinen Stirnwunde und Will hatte eine Beule am Hinterkopf davongetragen, als sie endlich durch das Tor der mit Säulen verzierten und mit in hängenden Töpfen wuchernden Leuchtmoos erhellten Hauses traten. Hinter ihnen und der Eskorte drang die sich nur langsam beruhigende Menge in den großen Saal.
Der Rat des Kaers saß wieder auf den zwölf Stühlen vor dem Podest, von dem aus Dryan seine Verteidigungsrede gehalten hatte. Ein Stuhl blieb allerdings leer. Kaliya war auch im Gerichtssaal nicht zu sehen.
Als die Gefährten auf dem Podest standen, neben dem die Wächter mit erhobenen Schwertern, jede ihrer Bewegungen beobachtend, Stellung bezogen hatten, wirkte der Saal mehr denn je wie eine Bühne. Hinter den Stühlen der Richter standen mehrere Hundert Zwerge dicht an dicht. Sämtliche Kaerbewohner mußten sich in den Raum gequetscht haben.
Das Schlimmste war jedoch das Schweigen, das wie eine massive Substanz den Raum ausfüllte. Für einen Moment befiel Dryan Furcht, das Ritual könne versagen. Trotz seiner Magie und Telseks Schlagkraft würden die Gefährten nur Sekunden überleben können.
Der Elf sah zu Telsek, der sehr bleich und mit schmalen Lippen den Raum musterte. Will schien die Ruhe selbst, aber ein verräterisches Zucken seiner Mundwinkel, das wahrscheinlich nur Dryan gesehen hatte, verriet seine Nervosität.
Als der Elf gerade einen Schritt vortreten und das Ritual erklären wollte, erhob sich der älteste Richter und wandte sich zu den Zwergen um. Die Stille wurde noch drückender, selbst das leise Scharren von Füßen und das Rascheln von Kleidung hörte schlagartig auf. Dann begann der weißbärtige Zwerg zu sprechen.
"Liebe Freunde! Diese Fremden stehen heute zum zweiten Mal vor diesem Gericht. Sie sind, wie ihr wißt, vor zwei Wochen schon einmal, wahrscheinlich mit dämonischer Hilfe, in unser Kaer eingedrungen und deswegen verurteilt worden, in den Minen zu arbeiten. Ihr wißt auch, daß ihnen die Flucht gelungen ist und wer ihnen dabei geholfen hat. Und ihr wißt auch, daß danach … Probleme aufgetreten sind.
Nun stehen sie also wieder vor uns. Sie haben die Unverfrorenheit besessen, wieder zurückzukehren, um ihr übles Werk, unser Kaer zu zerstören, zu vollenden. Dafür gibt es nur eine angemessene Strafe - den Tod."
Rufe der Zustimmung wurden laut, Fäuste in Richtung der Gefangenen geschüttelt.
Die Gefährten standen erschüttert auf dem Podest, völlig unklar darüber, wie sie reagieren sollten. Sollten sie versuchen, sich einen Weg durch die verzweifelten Zwerge zu kämpfen? Sie waren doch aber hierher gekommen, um sie zu befreien, nicht um sie zu töten. Außerdem würden sie nicht weit kommen, zumal die Waffen und die magischen Artefakte vor dem Portal lagen. Wieder verstanden sich die drei ohne Worte, als sie sich kurz gegenseitig ansahen, Verzweiflung im Blick. Sie würden es nicht einmal versuchen. Gewissen …
Aber das Urteil einfach so hinnehmen? Drei weitere Namen auf der langen Liste der verschollenen Abenteurer, die vergeblich versucht hatten, die Welt zu verbessern …? Und es war nicht einmal ein Dämon, keine bösartige Kreatur, kein niederträchtiger Namensgeber, der sie zur Strecke bringen würde.
Telsek ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut; Will schloß die Augen, erstarrt zu einer graublauen Statue; Dryan ließ den Kopf sinken.
Als das haßerfüllte Schreien der Zwerge zu einem Murmeln abebbte, schauten sie erstaunt wieder auf den Saal. Der älteste Richter hatte die Hand erhoben und die Menge verstummte.
"Die verehrte Kaliya hat uns jedoch gebeten, den Verurteilten noch eine Gelegenheit zur Verteidigung zur gewähren. Ich habe ihren Vorschlag in den alten Schriften überprüft …"
Mühelos übertönte die kräftige Stimme das erneut aufkommende Getuschel.
"Es gibt wirklich ein Möglichkeit zu erproben, ob die Fremden mit ihren Behauptungen recht haben: Das Ritual aus dem Buch von Morgen, von dem wir eine Kopie besitzen. Wir wissen alle, daß es noch Magie und Dämonen gibt. Nach der Beschreibung des Rituals schwebt bei einem so hohen Magieniveau, daß eine Plage ausgelöst wird, eine Kugel aus Wahrer Erde hoch über einem Becken voll Wahren Wassers. Ohne Magie würde die Erde ganz einfach ins Wasser fallen. Wenn die mystische Aura der Welt wirklich so gering geworden ist, daß die großen Dämonen verschwunden sind, wie die Verurteilten behauptet haben, wird die Kugel höchstens einen Zoll über dem Wasser zur Ruhe kommen. Die verehrte Kaliya hat uns zugesichert, daß die Fremden in der Lage sind und die Materialien besitzen, das Ritual auszuführen."
Die Gefährten waren nicht in der Lage, angesichts dieser Chance Erleichterung zu empfinden. Die Unruhe unter den Zwergen nahm wieder zu, und plötzlich wurden Rufe "Tötet sie, tötet sie!" laut. Die Wächter umklammerten ihre Waffen und es war nicht sicher, ob sie sie eher gegen die Gefangenen oder gegen die aufgebrachten Zwerge verwenden würden.
Die Autorität des alten Zwerges schaffte jedoch wieder Ruhe. Wieder reichte das Heben seiner Hand, um die Leute zu beruhigen, allerdings dauerte es jetzt länger als vorher, bis die wütende Menge wieder zuhörte.
Der Richter fuhr mit leiser Stimme fort: "Ich weiß, was in euch vorgeht, meine Freunde. Auch ich würde am liebsten dieser Bedrohung möglichst schnell ein Ende setzen. Aber dennoch - es liegt ein Hauch von Hoffnung in Kaliyas Bitte. Ich denke, wir sollten die Fremden das Ritual versuchen lassen. Wenn sie uns zu betrügen versuchen …"
Der Richter drehte sich wieder zu den Gefährten um.
"Könnt Ihr anfangen?"
Die drei spürten genau seine Angst - Angst vor ihnen und Angst um sein Volk. Dryan trat einen Schritt vor.
"Geehrter Richter", sagte er. "Wir danken Euch und dem Gericht für diese Möglichkeit, unsere Erklärungen zu beweisen. Wir könnten sofort mit dem Ritual beginnen, aber ich habe eine bessere Idee, da Ihr uns verständlicherweise nicht traut. Ich gebe Euch als ältestem Richter die Wahren Elemente, die wir mitgebracht haben und Ihr führt das Ritual selbst aus."
Der Elf blickte verständnisheischend zu seinen Freunden, die ihm zunickten und griff in die Taschen seiner Robe. Wieder begann das Murmeln und einer der Bewacher hob das Schwert, aber die Frau in der dunklen Rüstung, die die Anführerin der Wachen zu sein schien, hielt seine Hand fest. Widerstrebende Achtung vor dem Elfen lag auf ihrem Gesicht.
Dryan holte das Beutelchen und die sorgfältig verpackte Flasche hervor und reichte sie mit ausgestreckten Händen vorsichtig zu dem Richter hinunter. Der weißbärtige Zwerg nahm die Päckchen staunend und zögernd entgegen. Er wickelte die Flasche aus und öffnete vorsichtig den Beutel, dann nickte er.
"Hol das Becken", wies er einen jungen Zwerg an, der hinter seinem Stuhl stand.
Die Umstehenden machten ihm Platz, dabei war zu spüren, daß sich die Stimmung im Gerichtssaal langsam wandelte. Die Aggressivität wich einer ängstlichen Spannung.
Kurze Zeit später stand eine glänzende kleine Schüssel auf einem Dreifuß auf dem Podest und eines der Ratsmitglieder, ein schmaler braunhaariger Zwerg, der wie ein Schriftgelehrter aussah, goß vorsichtig das Wasser aus der Flasche hinein. Dann formte er magisch den feinen Staub Wahrer Erde zu einer Kugel. In der eingetretenen atemlosen Stille war deutlich sein Flüstern zu hören, als er die Formeln des Rituals sprach. Er mußte sie schon lange auswendig gelernt haben, immer in der Hoffnung, diesen Zauber einmal ausführen zu können, um die Öffnung des Kaers zu ermöglichen.
Schließlich brachte er die Kugel langsam über die Schüssel. Es schien zuerst, als wagte der Mann nicht, die Kugel freizugeben; die Angst vor einem Mißerfolg stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Doch dann entließ er mit geschlossenen Augen die Erde einen Schritt weit über dem Becken. Und die Kugel fiel. Die versammelten Zwerge stöhnten auf; Erleichterung und Unglauben machten sich breit. Etwa einen Zoll über der Wasseroberfläche kam die Kugel wie erwartet zur Ruhe. Trotzdem seufzten die Gefährten erleichtert auf, während im Saal nach einer Minute sprachloser Verblüffung die Gefühle ausbrachen.
Eine Mischung aus Schreien und Jubeln, Lachen und Weinen erfüllte den Raum, der alte Richter sprang leichtfüßig wie ein junger Bursche auf das Podest und umarmte mit Tränen in den Augen nacheinander die drei Abenteurer, ohne sich über die Größenverhältnisse Gedanken zu machen. Dabei stammelte er abwechselnd Entschuldigungen und Danksagungen. Die Anführerin der Wache war gegen eine Wand gesunken, einigen andere Zwergen ging es nicht besser. Irgendwo in der Menge wurde ein Lied angestimmt, jemand versuchte in der Enge zu tanzen; kleine Kinder wurden juchzend in die Luft geworfen.
Ein furchterregendes Brüllen unterbrach das beginnende Freudenfest. Eine kleine Tür an der seitlichen Wand des Saals wurde krachend aus den Angeln gedrückt und Kaliya stürzte die Menge. Sie - oder das, was von ihr Besitz ergriffen hatte - schleuderte die Zwerge rücksichtslos beiseite, das Knirschen brechender Knochen mischte sich in die Entsetzensschreie. Der Dämon stürmte auf das Podest zu, Stücke zerrissener Ketten hinter sich her schleifend.
Die Gefährten reagierten sofort. Mit einer solchen Bedrohung konnten sie erheblich besser umgehen als mit der Dankbarkeit, die zumindest Telsek und Dryan Röte ins Gesicht getrieben hatte.
Der Troll gelangte mit einem seiner eleganten weiten Sprünge genau in die Laufrichtung der rasenden Zwergin, die gegen ihn prallen mußte, während Dryan und Will in Höchstgeschwindigkeit ihre Zauber wirkten. Der Zauber des Elfen verlangsamte Kaliyas Bewegungen und in dem Moment, als sie wie ein rollender Felsblock gegen die Muskelpakete des Kriegers rammte, klebte der Elementaristenspruch sie am Boden fest.
Trotzdem tobte sie immer noch wie eine Wahnsinnige und schlug nach allem, was in ihrer Reichweite war. Telsek umklammerte sie von hinten in der Hoffnung, daß den Zauberkundigen etwas einfallen würde, bevor der Hirnwühler in Kaliyas Kopf Dämonenkräfte einsetzte oder sich ihrer magischen Fähigkeiten bediente.
Doch seine Sorge war umsonst. Die Zwergin erschlaffte plötzlich in seinen Armen. Sie drehte den Kopf zu Telsek und ihre fast unkenntlichen Züge entspannten sich.
"Danke, mein Freund", murmelte sie fast unverständlich, die zerbissenen und blutigen Lippen mühevoll bewegend. "Jetzt geht es wieder."
Mitleid stand dem großen Troll ins Gesicht geschrieben, als er Kaliya vorsichtig auf die Arme nahm und nach vorn trug. Will kümmerte sich inzwischen um einen der verletzten Zwerge, dessen Rippen böse gebrochen waren; Dryan schiente ein paar Gliedmaßen.
Als sie fertig waren, kamen sie wieder zum Podest zurück, auf dessen Rand Telsek saß, die uralte Zwergin wie ein Kind auf dem Schoß haltend. Seine Geste war jedoch nicht nur Fürsorge - er wollte sie im Notfall auch festhalten können, wenn der Dämon wieder die Oberhand gewinnen sollte.
"Bist du in Ordnung?" fragte Dryan seinen Freund.
"Geht so", antwortete Telsek. "Ein paar blaue Flecke wie immer und ein Zahn wackelt. Aber ihr geht es nicht gut."
Kaliya lag mit geschlossenen Augen in den Armen des Trolls; ihr Atem ging flach. Sie sah zerbrechlich und fast durchscheinend aus. Dennoch war den Gefährten klar, daß sie jederzeit wieder beginnen konnte zu toben.
Dryan setzte sich neben seinen Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter.
"Ich fürchte, wir können nichts für sie tun. Selbst wenn es möglich wäre, den Dämon zu bannen, würde sie daran sterben, spätestens wenn ihr wahres Alter sie einholt."
Der Elf seufzte.
In diesem Moment öffnete Kaliya die Augen. Nichts an ihrem Gesichtsausdruck zeigte, ob sie den Magier gehört hatte.
"Bringt die Leute raus und zeigt ihnen die Freiheit", flüsterte sie heiser. "Sie haben so lange gewartet …"

Will und Dryan sprachen das weitere Vorgehen mit dem Rat der Zwerge ab. Der Troll ließ die alte Zwergin inzwischen nicht aus seiner Umarmung und Kaliya nahm es ruhig hin. Sie schien das erste Mal seit langer Zeit jemand anderem die Kontrolle über den Dämon zu überlassen und sich zu entspannen. Und erstaunlicherweise zeigte sich ihre Besessenheit nicht mehr.
Der Rat folgte den Zauberkundigen zum Ausgang des Kaers. Hinter den Ratsmitgliedern kamen die Krieger, aber der Rest der Bevölkerung von Simolda, der eigentlich abwarten sollte, ließ sich nicht halten. Sie alle kannten die Oberfläche nur aus den Überlieferungen, jedoch überwog die Neugier die Angst. Der Zug der Zwerge machte sich schweigend auf den Weg und hinter ihnen folgte Telsek mit seiner Last.
Die Zeitrechnung des Kaers entsprach wirklich schon lange nicht mehr dem Lauf der Sonne. Für die Zwerge war es später Nachmittag, als sie in der ersten Morgendämmerung den Einstieg unter dem Felsbogen verließen. Viele waren von der Helligkeit geblendet und überwältigt von der Weite der Landschaft, den Farben und Gerüchen. Vor allem die Kinder waren entsetzt von der scheinbaren Unendlichkeit, die sie umgab, und suchten Schutz bei Eltern und Verwandten. Und dann ging am östlichen Horizont in goldenem Dunst groß und rot die Sonne auf.
Die meisten der Zwerge fielen weinend vor diesem Anblick auf die Knie und auch die Gefährten hatten Tränen in den Augen. Aber lange ertrugen die Kaerbewohner das schmerzende Tageslicht nicht, sie zogen sich nach und nach in den Schutz ihrer vertrauten Tunnel zurück.
Der älteste Richter und die Anführerin der Wache waren die letzten, die mit zusammengekniffenen Augen Hand in Hand die erwachende Landschaft betrachteten. Erst jetzt fiel auf, wie ähnlich die beiden waren, Vater und Tochter, nahm Will an. Schließlich war es aber auch für sie zu viel; der Zwerg drückte dem Obsidianer noch einen prallen Beutel in die Hand und bedankte sich wortreich für die Kopien der Karten Barsaives, die Dryan den Zwergen überlassen hatte. Dann stieg er rasch mit seiner Tochter in den Tunnel.
Insgeheim waren die Gefährten froh darüber, daß der Abschied und die Danksagungen so kurz verlaufen waren. Sie würden irgendwann einmal wieder hier vorbeikommen und nach dem Kaer sehen - die Zwerge würden sich auch ohne ihre Hilfe an das Leben an der Oberfläche gewöhnen. Darüber machten sie sich keine Sorgen.
"Was geschieht mit ihr?" fragte Telsek leise, der sich mit Kaliya in den Schatten des Felsbogens zurückgezogen hatte.
Die Zwergin regte sich kaum in seinen Armen, sah jedoch mit weit aufgerissenen Augen um sich, ein Ausdruck des Friedens lag auf ihrem Gesicht.
Sie nahm den Zauberkundigen die Antwort ab, die diesen sowieso schwergefallen wäre.
"Ihr habt so viel für uns getan, daß wir Euch kaum genug belohnen können. Ich habe nur noch eine Bitte an Euch. Ich weiß, daß mir nicht zu helfen ist und ich werde immer nur eine Gefahr für meine Leute sein - Ihr müßt mich töten."
Der Troll ließ Kaliya vor Schreck fast fallen. Die alte Frau sah ihm lächelnd in die Augen.
"Eure Axt ist sehr scharf, großer Krieger. Es wird schnell gehen …"
Zögernd ließ Telsek Kaliya zu Boden sinken. Sie schwankte kurz, dann straffte sie sich und nickte ihm zu. Dryan und Will traten zu ihrem Freund, der Tränen in den Augen hatte.
"Tu es", flüsterte der Elf und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Es ist wirklich der beste Weg …"
Kaliya kniete sich vor dem Troll auf den felsigen Boden. Die Tränen liefen ungehemmt über Telseks Gesicht, als er schweigend Lorms Axt vom Gürtel nahm und nach einem kurzen Moment des Zögerns mit größter Präzision schwang. Der Kopf mit den grauen Haaren rollte ein Stück, dann zerfiel er zu feinem Staub. Wie Dryan vermutet hatte, holten die Jahrhunderte den Körper der Frau ein. Auch von ihm blieb kaum eine Spur außer der zerrissenen Kleidung und den Resten der Ketten.
An der Stelle, wo der Kopf zerfallen war, wand sich eine fette schwarze wurmartige Kreatur auf dem Boden, die sogar so etwas wie ein Gesicht von bösartiger Intelligenz zwischen den mit silbrigen Haken besetzten Tentakeln besaß.
Allerdings blieb dem eigentümlichen Hirnwühler keine Zeit, etwas zu unternehmen. Vor Wut und Trauer außer sich zerhackte Telsek den Dämon in kleinste Stücke. Dann sank der Troll schluchzend auf einen Felsblock und auch den Zauberkundigen fiel kein Trost ein.



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