2. Kapitel


Verdacht




Der Blutwald. Wie schon bei ihrem letzten Besuchen waren die Gefährten wie betäubt von dem wild wucherndem Leben zwischen den uralten riesigen Bäumen. Dryans Wunsch, den Wald einmal bis zum anderen Ende zu durchwandern, löste sich auf wie schon vor Monaten, als er das erste Mal vor dem dicht verwobenem Pflanzenteppich stand, der sich hinzog, soweit das Auge reichte. Einfach alles war falsch an diesem Wald.
Die Köpfe in den Nacken gelegt betrachteten die Freunde die unzähligen Schattierungen von Grün, zwischen denen eigenartige Blüten bunte Farbtupfer setzten. Der schwere Duft der Orchideen quoll aus dem Wald heraus wie eine zähe Flüssigkeit, konnte aber den Geruch der vermodernden Pflanzen nicht völlig überdecken. Mit Schaudern dachten die Freunde an die Gefühle, die sie im Blutwald unweigerlich überfallen würden - Bewunderung, Bedrohung und immer Verfall.
"Komm, Dryan", riß Will den Elfen aus seinen finsteren Gedanken. "Du wolltest doch hierher, um nach Wahrem Holz zu suchen. Wir gehen rein und verschwinden möglichst schnell wieder, bis zum Palast müssen wir doch gar nicht."
"Du hast recht", seufzte Dryan. "Ich gebe zu, der Gedanke an das Verhängnis meiner Verwandten ist schmerzhaft. Manchmal wünschte ich, wir könnten etwas dagegen unternehmen."
Telsek legte ihm grinsend die Hand auf die Schulter.
"Und wenn wir heute abend die Blutelfen erlöst haben, retten wir morgen dann den Rest der Welt. Nimm dir nicht immer zu viel vor, mein Freund."
Der Elf mußte wider Willen lächeln.
"Ihr habt recht. Ich bin im Moment nur so unsicher. Ich weiß nicht einmal, ob Hiermons Idee, daß es hier Wahres Holz geben müßte, wirklich so gut war. Aber laßt es uns wenigstens probieren. Wenn wir bis heute abend nichts gefunden haben, kehren wir um."
Sich gegen die auf sie einstürzenden Gefühle wappnend betraten die drei den Wald, der sie sofort verschluckte wie ein unersättliches Raubtier. Die Luft war feucht und schwer, Wurzeln schienen sich absichtlich um die Füße der Gefährten zu winden. Lange Flechten hingen von den knorrigen Ästen wie schwere, zerschlissene Vorhänge; das braun-grüne Moos, das umgestürzte Stämme und im weichen Grund versunkene Steine bedeckte, saugte sich an ihren Füßen fest. Die winzigen Insekten konnten nur durch einen Zauber von Dryan und Telsek ferngehalten werden.
"Manchmal denke ich, dieser Wald ist eine einzige, riesige und sterbende fleischfressende Pflanze", sagte Will nach ein paar Schritten.
Schon jetzt hatte die Gruppe das Gefühl, sich hoffnungslos verirrt zu haben.
"Woran willst du das elementare Holz eigentlich erkennen?"
"Genau. Ich kenne hier nicht einmal eine einzige Pflanze", ergänzte der Krieger, dem bereits der Schweiß über den breiten Rücken lief.
Dryan lächelte wissend.
"Hiermon hat es mir erklärt. Eigentlich ist es ganz einfach, wenn man sich ein wenig mit den Elementen auskennt. Es ist - nun, reiner, lebendiger als normales Holz. Es kann in jedem Baum stecken, aber durch die Plage ist es fast völlig verschwunden. Nur in unberührten Wäldern gibt es ab und zu noch ein paar Körnchen davon. Wenn ich es sehe, werde ich es erkennen."
Seine Erklärung überzeugte zumindest Telsek nicht im mindesten, aber der Krieger erkannte an, daß das ein Thema war, bei dem er nicht mitreden konnte.
Wenigstens nickte Will verstehend. Der Obsidianer sollte sich natürlich mehr mit den Elementen auskennen, aber Wahres Holz war so selten, daß er selbst noch nie welches frei gesehen hatte. Die einzigen Gelegenheiten, die er bisher gehabt hatte, mit diesem Element in Berührung zu kommen, waren ein paar Zauberstäbe und magische Gerätschaften gewesen.
Plötzlich gab Telsek das Warnsignal und die drei blieben stehen. Als das Geräusch ihrer Schritte verstummt war, hörten auch Will und Dryan das bekannte trockene Rascheln vor ihnen. Zwischen langen Luftwurzeln schoben sich fünf Dornenmenschen hindurch und versperrten den Pfad. Die Gefährten wußten bereits, daß es sinnlos war, die Kreaturen, die mit ihren aus stachligen Zweigen zusammengesetzten Körpern nur entfernt menschliche Gestalt hatten, zu grüßen. Eigentlich waren sie nicht viel anders als die Falschmenschen Parlainths, Konstrukte mit der fest eingeprägten Aufgabe, den Wald und den Lebensraum der Blutelfen vor Eindringlingen zu beschützen. Wenigstens waren sie frei von irgendwelchen dämonischen Einflüssen.
Dryan zog schweigend die Rose, die immer noch weiß und unberührt von den Einflüssen der Zeit war, aus der Tasche und hielt sie vor den Konstrukten in die Höhe. Es war nicht zu erkennen, ob die Dornenmenschen überhaupt Augen in den dunklen Höhlen in ihren Gesichter hatte, aber ihre magischen Sinne reichten aus, die Blume zu erkennen. Stumm und raschelnd traten sie beiseite, einen Pfad in die Tiefen des Waldes freigebend.
Als die Gefährten an ihnen vorbeigegangen waren, stellten sie mit Erschrecken fest, daß ihnen die Dornenmenschen folgten. Der Pfad vor ihnen entstand immer gerade erst und hinter der unerwünschten Eskorte schob sich der dichte Wald wieder zusammen.
"Das wird wohl nichts mit deiner ruhigen Suche", sagte Will leise zu Dryan. "Was meinst du, wo sie uns hinführen?"
"Direkt zum Palast."
Telsek gab sich keine Mühe, die Stimme zu senken.
"Du weißt doch, wie stumpfsinnig sie sind."
Der Elf hob die Schultern.
"Freies Geleit zu Alachias Palast … Wörtlicher kann man es wohl kaum nehmen. Ich hoffe nur, daß sie auf die Bedürfnisse von Namensgebern eingestellt sind. Sonst laufen sie drei Tage lang durch und lassen uns keine Rast."
"Und was machen wir, wenn wir da sind?" fragte Telsek mürrisch.
Der Gedanke an den Palast der Blutelfen hob seine Laune nicht gerade.
"Dieser Blutwächter Takaris kann uns vielleicht weiterhelfen", antwortete Dryan. "Wenn jemand etwas über Elementares Holz im Wald Bescheid weiß, dann sicherlich die Blutelfen. Und Takaris war doch ganz umgänglich."
Der Troll schnaubte verächtlich.
"Er war nicht ganz so überheblich wie die anderen. Aber er wollte ja auch etwas von uns. Vielleicht dürfen wir dann gleich wieder auf Dämonenjagd gehen."
"Abwarten", versuchte Will, den Krieger zu beruhigen. "Ich bin auch nicht gerade glücklich, aber wir sind schon mit ganz anderen Sachen fertig geworden."
Aber Telsek grummelte weiter vor sich hin.

Die Befürchtung, daß die Dornenmenschen sie ohne Pause durch den Wald treiben würden, erwies sich als unnötig. Will, der ausprobieren wollte, wie die Konstrukte reagierten, blieb mitten im Lauf plötzlich stehen. Die Dornenmenschen hielten kurz darauf ebenfalls an und standen wie seltsame Gewächse da. Und der Pfad, auf dem die Gefährten bisher gegangen waren, endete in fünf Schritt Entfernung. Das dichte Gestrüpp schien undurchdringlich, als sich Dryan ihm näherte. Höchstens mit der Axt wäre hier etwas zu machen.
"Es wird bald dunkel, laßt uns hierbleiben."
Telsek ließ sich auf den federnden Boden fallen, aus dem ein feiner, herb riechender Dunst aufstieg. Wenigstens drang hier nicht diese dunkle Flüssigkeit aus dem Moos, die immer so verdächtig an Blut erinnerte.
"Heute werden wir wohl keine Wache brauchen, oder?" fragte er hoffnungsvoll.
"Ich glaube nicht, daß diese Dinger uns im Notfall wirklich beschützen", erwiderte der Obsidianer. "Sie schaffen den Weg und lassen uns durch. Mehr können wir nicht erwarten."
Telsek zuckte die breiten Schultern.
"So ernst war es auch nicht gemeint. Aber ich bin müde. Dieser Wald …"
Dryan ließ sein Bündel neben dem Krieger fallen.
"Du hast recht. Ich fühle mich auch wie durch die Mangel gedreht. Die Idee, hierher zu kommen, war wohl doch nicht so gut."
Will nickte und starrte in den dunkler werdenden Wald. Abgesehen von den Dornenmenschen, die sie augenlos beobachteten, schienen unzählige unsichtbare Augen auf die Eindringlinge gerichtet zu sein. Lautlos flüsternde Stimmen forderten sie zur Umkehr auf. Und trotzdem war es dem Obsidianer klar: Ebenso wie es sie immer aufs Neue nach Parlainth zog, würden sie nach einiger Zeit wieder hierher kommen. So viele Geheimnisse und so viele Rätsel …

Nach zwei eintönigen Tagesreisen waren die Schritte der Gefährten immer schleppender geworden und ihre Gespräche verstummt. Der Blutwald wirkte immer noch so fremd wie eine andere Welt, aber die drei hatten inzwischen das Gefühl, von ihm aufgenommen worden zu sein, und sich allmählich in ihm aufzulösen wie Salz in einem Glas Wasser. Telsek ertappte sich dabei, daß er begann, mit den Dornenmenschen im Gleichschritt zu gehen; Dryan wunderte sich fast, daß ihm noch keine Stacheln aus der Haut ragten. Und Will schien sich so weit in sein Innerstes zurückgezogen zu haben, daß er völlig mechanisch in gleichbleibender Geschwindigkeit weiterlief, ohne auf die Umgebung zu achten. Die beiden anderen mußten ihn immer, wenn sie anhielten, darauf aufmerksam machen, damit er nicht in das Unterholz lief.
Die Gefährten waren fast erleichtert, als sich am Nachmittag ein neues Geräusch in das Rauschen der Bäume, das Summen der Insekten, das trockene Rascheln der Dornenmenschen und die seltsamen kleinen Schreie, die vielleicht von Vögeln oder Fröschen stammen mochten, mischte. Will hob den Kopf und blieb stehen; sein Gesicht sah aus, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht.
"Ich verstehe immer noch nicht, wie man so singen kann", sagte er rauh.
Telsek und Dryan sahen sich ernüchtert an. Das Gefühl der Unendlichkeit ihres Weges hatte endlich aufgehört. Aber was jetzt auf sie zukam, war nicht einfacher. Der getragene Gesang, der sich unaufhaltsam näherte, jagte beiden einen Schauder über den Rücken.
Der Troll hätte nicht in Worte fassen können, was daran so unangenehm war, aber Dryan sprach es aus: "Sie singen wie sie sind und wie ihr Wald ist. Schön, wild, exotisch und gleichzeitig verdorben und verfaulend. Irgendwie tun sie mir leid."
"Sag das nicht so laut", erwiderte Telsek und bemühte sich, die Hände von der Axt fernzuhalten.
"Ich weiß, ich weiß", entgegnete Dryan. "Ausgerechnet mir mußt du nicht erzählen, wie stolz sie sind."
Vor den Gefährten schob sich der Wald auseinander und vier Blutelfen traten durch die Büsche. Die Dornenmenschen erstarrten mitten in ihrer Bewegung, der eine fiel sogar raschelnd und knisternd um, weil er seinen dornigen Fuß gerade erhoben hatte. Die aus verwobenen Pflanzen bestehenden, eleganten Rüstungen der Elfen und die schmalen Klingen, die sofort in ihre Hände sprangen, wiesen sie als Patrouille aus; ihre Abzeichen waren den Gefährten allerdings unbekannt. Wahrscheinlich gehörten sie nicht zu Takaris' Einheit.
Langsam und vorsichtig streckten die Gefährten die leeren Hände vor, nur Dryan hatte geistesgegenwärtig nach der Rose gegriffen, die er mit einer tiefen Verbeugung erhob. Die finsteren Gesichter der Blutelfen, von denen winzige Blutstropfen rannen, zeigten keine Regung, nur die Schwerter senkten sich um eine Winzigkeit.
"Was wollt Ihr, Eindringlinge?" fragte die Frau, die die Gruppe anführte.
Die Schärfe ihrer Frage stand in einem solchen Widerspruch zu ihrer melodischen Stimme, daß Telsek eine Gänsehaut über den Rücken lief. Die dunklen Augen der Wächterin schienen sich in Dryan hineinzubohren.
"Wir grüßen Euch, edle Wächter des Elfenhofes", antwortete Dryan und versuchte, unterwürfig zu klingen. "Unser Anliegen ist es, den Blutwächter Takaris zu sprechen, für den wir bei unserem letzten Besuch einen Auftrag …"
Die Blicke, die sich die Blutelfen zuwarfen, ließen ihn stocken. Will hob alarmiert die Brauen und Telsek näherte seine Hand unmerklich der Axt. In den Augen der Wächter lag eine tödliche Drohung.
Die Rose schien sie jedoch von ihrem Vorhaben abzuhalten. Zwei der Wächter traten mit einer geschmeidigen Bewegung hinter die Gefährten. Stumm winkte die Elfin; es schien sie ihre ganze Selbstbeherrschung zu kosten, Dryan nicht aufzuspießen oder ihm wenigstens mit dem dornenbedeckten Handrücken ins Gesicht zu schlagen. Ohne eine Erklärung ging sie voran, und die Spitzen der Schwerter in ihrem Rücken hielten Will und Telsek davon ab, eine unvorsichtige Bewegung zu machen oder ein Wort zu sagen.
Dryan, der vor seinen Freunden herging, fragte sich verzweifelt, was er falsch gemacht hatte. Dann erst kam ihm eine weitere Möglichkeit in den Sinn. Vielleicht war der Blutwächter Takaris bei seiner Königin in Ungnade gefallen. Der Magier erinnerte sich an vage Gerüchte über das Verschwinden von abgelegten Liebhabern Alachias, der Schrecklichen und Schönen. Irgendjemand hatte ihm einmal von einer Grube neben dem Palast erzählt, aus der nur ganz wenige entkommen waren.
An eine Flucht war jetzt jedenfalls nicht mehr zu denken, zumal die sich Dornenmenschen wieder in ihren nachtwandlerischen Trab gesetzt hatten und neben ihnen herliefen.

Nach zwei Stunden schweigenden Marsches erreichten sie den Palast Alachias. Die aus den acht Baumriesen bestehende Festung auf der großen Lichtung, auf die die Sonne das letzte goldene Nachmittagslicht warf, bevor sie hinter das undurchdringlichen Laubwerk des Wald tauchte, hinterließ trotz ihrer atemberaubenden Schönheit das gleiche unheimliche Gefühl wie ihre Bewohner.
In kleinen Gruppen flanierten Blutelfen in vornehmen und edlen Gewändern aus Blüten, Blättern und verschlungenen Ranken auf dem weichen Gras der Lichtung. Die winzigen Blutstropfen, die sich immer wieder von den Spitzen der Dornen lösten, die sich durch ihre feine Haut bohrten, hinterließen keine Spuren auf der Kleidung und das schmerzhafte Verzerren der Gesichter bei einigen Bewegungen beachtete niemand.
Hatten sie sich wirklich mit ihrem unnatürlichen Zustand abgefunden?, fragte sich Dryan, während er sich ein verbindliches Lächeln abrang.
Will ließ nichts anmerken, aber der Troll starrte verbissen zu Boden, um die arroganten Blicke, die sie trafen, nicht bemerken zu müssen. Trotz seiner Kriegerehre, die durch das leise Tuscheln und geringschätzige Lachen der Elfen verletzt wurde, war ihm klar, daß er nicht viele Chancen haben würde, wenn er die aufgeblasenen Adligen mit der breiten Axt belehren wollte. Er ballte die Fäuste, während er seinen Gefährten und der Eskorte die breite Treppe hinauf in den Palast folgte.

Der Raum, in den sie geführt wurden, nachdem ihnen die Ausrüstung abgenommen worden war, ohne sie eines Wortes zu würdigen, war so komfortabel, wie es die Gefährten von ihrem letzten Besuch her gewohnt waren. Die mächtigen Äste der Bäume waren zu dichten grünen Wänden verflochten; bunte Blüten, die schweren Duft verbreiteten, schmückten das Zimmer. Das Fenster, hinter dem sich der Blutwald immer mehr verdunkelte, war jedoch nicht offen, sondern von einem dornigen Gitterwerk versperrt. Der Eingang zum Zimmer hatte sich hinter den Blutelfenwächtern geschlossen und war ebenso undurchdringlich wie die Wand.
"Ein goldener Käfig", sagte Telsek grimmig und prüfte die Polsterung eines geschwungenen Stuhls, dann rüttelte er an dem Dornengitter, ohne darauf zu achten, daß er sich die Hände verletzte.
"Wenn wir die Rose nicht hätten, wären wir wohl gleich in der Grube gelandet", entgegnete Will. "Ich möchte wissen, was seit dem letzten Mal vorgefallen ist."
Dryan setzte sich seufzend.
"Ich vermute, daß Takaris in Ungnade gefallen ist. Hat jemand eine Idee, wie wir herauskommen?"
"Das Fenster ist dicht", antwortete Telsek und zeigte seine zerstochenen Handflächen vor. "Das Gestrüpp scheint zwar nachgiebig, aber es zieht sich zusammen, wenn man es anfaßt. Und die Tür …"
Obwohl er den Satz nicht beendete, fragten die beiden anderen nicht nach. Selbst wenn es ihnen möglich gewesen wäre, die Wand an dieser Stelle irgendwie wieder zu öffnen, wimmelte der Korridor, durch den sie gekommen waren, von Wachen und führte direkt auf die Treppe zum Hof. Es schien keinen Fluchtweg zu geben. Vielleicht wäre die Grube doch besser gewesen.
Unvermittelt schoben sich an einer anderen Stelle die dichtbelaubten Zweige auseinander. Telsek griff sofort an seinen Gürtel, aber Lorms Axt war nicht zur Stelle. Will schüttelte kaum merklich den Kopf, und der Krieger holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Ein hochgewachsener Blutelf trat durch die Öffnung, die sich sofort wieder schloß.
"Seid ruhig", befahl der Mann leise und versuchte, seinen Worten durch ein Lächeln, das ihm offensichtlich schwer fiel, die Schärfe zu nehmen.
Der prächtigen Kleidung nach gehörte er zu den höhergestellten Adligen des Elfenhofes, sein ständig wechselnder Gesichtsausdruck brachte die Gefährten jedoch fast zum Lachen.
Telsek erinnerte die gezwungene Mimik des Mannes an eine kleine Begebenheit aus seiner Heimat, die vor vielen Jahren passiert war: Der Dorfälteste hatte sich einen Hund gekauft, der so winzig war, das niemand glaubte, daß er sich jemals zum Bewachen eignen konnte. Trotzdem lobten alle das Tier, an das der Älteste sein Herz gehängt hatte. Die gleiche dick aufgetragene Freundlichkeit und die krampfhaften Versuche, ihre Geringschätzung zu verbergen, die die Trolle damals an den Tag gelegt hatten, ließen sich jetzt in der Miene des Blutelfen lesen.
"Es darf niemand wissen, daß ich mit Euch spreche", fuhr der Blutelf fort. "Oltis ist mein Name. Wir sind uns nur kurz begegnet, als Ihr das letzte Mal hier wart, aber das ist auch nicht wichtig. Ihr müßt …"
Oltis fehlten offensichtlich die Worte, sein Anliegen höflich vorzubringen, er hob verlegen und hilflos die Hände.
Dryan hörte das leise Schnauben des Trolls, der seine Belustigung kaum noch zurückhalten konnte. Er stand auf und verneigte sich.
"Wir grüßen Euch, edler Herr. Was können wir für Euch tun?" fragte er etwas zu laut, um die peinliche Pause zu überbrücken und Telseks Prusten zu übertönen.
"Takaris", platzte der Blutelf heraus. "Er ist verschwunden und es wird … Ich mache mir Sorgen um ihn. Er hat sich in letzter Zeit oft mit Außenseitern abgegeben und es gab wieder Gerüchte über Sklavenjäger in der Nähe. Ihr müßt ihn finden!"
Oltis hatte keine Pause gemacht und holte jetzt tief Luft. Der nächste Satz kostete ihn offenbar noch mehr Überwindung.
"Als Belohnung gebe ich Euch das hier."
Damit griff er in seinen Kragen, zog einen goldenen Anhänger aus seinem Gewand und ließ ihn mitsamt der Kette in Dryans Hand fallen. Ein Geräusch aus der Richtung des Korridors ließ den Blutelfen zusammenfahren, eine Bewegung, die sichtlich schmerzhaft war. Rasch trat Oltis zur Wand und verschwand durch den sich öffnenden Durchgang im Nebenraum.
Bevor die Zweige sich hinter ihm schlossen, flüsterte er etwas, das kaum zu verstehen war. Fassungslos starrten sich die Gefährten an. Hatte wirklich gerade ein Blutelf "bitte" gesagt?
Bevor sie sich jedoch Gedanken über das merkwürdige Verhalten des Mannes machen konnten, entflochten sich die Zweige, die die Wand zum Korridor bildeten. Sie gaben den Blick auf zwei Wächter und einen reich gekleideten Mann frei. Der Vornehme gab den Wächtern einen Wink, sich vor der Tür zu postieren, dann betrat er die Zelle.
Der Blick, den er den Gefangenen zuwarf, hätte von Kalourin stammen können, dem Blutwächter, der ihnen damals so viel Ärger gemacht hatte. Nicht einmal ein Drache würde so geringschätzig auf eine Ratte herabsehen. Offenbar erwartete der Blutelf, daß die Außenseiter sich vor ihm auf den Boden warfen, aber keiner der drei tat ihm den Gefallen, mehr als eine knappe Verbeugung anzudeuten, obwohl jedem die Gefahr bewußt war, die dieses ungebührliche Verhalten heraufbeschwören konnte.
Der Mann schüttelte jedoch nur kurz angewidert den Kopf. Solch ungebildeter Pöbel konnte wohl keine angemessene Ehrfurcht an den Tag legen.
"Ihr steht vor Kesiaval, Berater ihrer Majestät Alachia, der Königin aller Elfen", sagte er und wieder lief es den Gefährten eiskalt den Rücken herunter, als sie die schneidende und gleichzeitig melodiöse Stimme hörten.
Dryan wollte etwas erwidern, aber der Blutelf hob herrisch die Hand.
"Unterbrich mich nicht, Mißgebildeter!" zischte er haßerfüllt.
Seine blaßblauen Augen schienen zu glühen.
Telsek schaute seinen Freund mitleidig an, der noch blasser als sonst war und die Zähne zusammenbiß. Der Troll hatte nicht geahnt, daß Blutelfen die anderen, die normalen Elfen so sehr als Feinde betrachten würden. Und vor ein paar Stunden hatte Dryan noch Mitgefühl mit seinen dornenbesetzten Geschwistern gehabt …
"Noch steht Ihr unter dem Schutz der Schönen und Schrecklichen", fuhr Kesiaval leise fort. "Und in Ihrer Schuld. Deshalb werdet Ihr Euch jetzt aufmachen und diesen Verräter Takaris finden. Ihr werdet ihn lebendig herbringen - wagt Euch nicht, das Urteil selbst zu vollstrecken! Falls Ihr nicht zurückkehrt, ist Euer Leben verwirkt, selbst wenn Ihr die Rose noch besitzt. Bei Sonnenaufgang werdet Ihr aufbrechen."
Damit verließ der Blutelf die Zelle.

Als die Tür sich wieder geschlossen hatte, ließ sich Dryan auf den Stuhl fallen und barg das Gesicht in den Händen. Telsek legte ihm seine Pranke auf die Schulter.
"Es tut mir leid, mein Freund", sagte er schüchtern. "Ich hatte keine Ahnung …"
Will, der sich die ganze Zeit nicht gerührt hatte, fluchte auf theranisch.
"Schon gut."
Der Elf hob den Kopf und schüttelte sich, als wäre er aus einem unangenehmen Traum erwacht.
"Es ist nicht gerade leicht für sie. Nach all den Jahrhunderten Schmerz kann man wohl nichts anderes erwarten. Laßt uns lieber überlegen, was wir jetzt machen."
Als würde er sich jetzt erst daran erinnern, öffnete er die Hand, in der immer noch der Anhänger lag. Feine goldene Blätter umschlangen eine Blüte aus Opal, eine wunderschöne Arbeit. Und etwas war ungewöhnlich für einen blutelfischen Schmuck - es gab nicht die geringste Andeutung von Dornen.
"Das stammt noch aus der Zeit vor der Plage", stellte Dryan fest. "Was dieser Schmuck wert ist, wage ich nicht zu raten. Warum gibt er es jemandem wie uns?"
"Es ist ihm wichtig, daß wir Takaris finden", erwiderte Will.
"Diesem Berater auch. Aber der hat uns gedroht, oder würdet ihr das anders auffassen?"
Der Elf schüttelte sich angewidert.
Telsek grinste breit.
"Ihr könnt mich erschlagen, wenn es nicht stimmt. Oltis hat Takaris gern."
Dryan und Will starrten den Krieger ungläubig an. Dann schüttelte der Magier traurig den Kopf.
"Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Aber so einfach ist es nicht. Ich nehme eher an, daß Takaris, Oltis und Kesevial in einer der typischen Intrigen verstrickt sind, die wir nicht einmal verstehen würden, wenn sie uns jemand ein paar Tage lang erklären würde. Selbst in Thera blühte dieses Verfahren, um an Posten, Vorteile oder Einfluß zu kommen. Und hier, in diesem abgeschlossenen Bereich, ist es noch schlimmer, weil jeder jeden kennt. Ich bin selbst nicht ganz unbewandert im Spinnen von Intrigen …"
Dryan lächelte leicht und zog eine Braue hoch.
"Und selbst ich würde hier keine Chance haben, selbst wenn mir Dornen wachsen würden."
Der Obsidianer zuckte die Schultern. Von diesen Spielen der schnellebigen Namensgeber hatte er nie viel gehalten, obwohl er an der Schule der Schatten einiges erlebt hatte und Dryans Familiengeschichte kannte. Von allen Energieverschwendungen war das Ränkeschmieden eine der sinnlosesten.
Doch Telseks Grinsen hatte nicht nachgelassen.
"Ihr könnt mich erschlagen …" wiederholte er. "Und wenn wir Takaris finden, sag ich es nur diesem Oltis."
"Falls wir ihn finden."
Will klang ein wenig besorgt.
"Was kann uns passieren, wenn wir keinen Erfolg haben? Oder wenn wir einfach nicht wiederkommen?"
"Keine Ahnung", mußte Dryan eingestehen. "Ich weiß nicht, wie weit Alachias Arm außerhalb des Blutwaldes reicht, aber ich möchte es auch nicht herausfinden. Takaris hatte sogar Verbindungen bis nach Haven - vielleicht haben es andere Blutelfen noch weiter gebracht. Ich denke, wir sollten uns erst einmal auf die Suche machen. Vielleicht fällt uns unterwegs noch etwas ein."
Der Krieger, der wieder zum Fenster getreten war, schnaubte unzufrieden.
"Ein ehrlicher und ehrenhafter Kampf, das wäre …"
Ohne den Satz zu beenden, schlug er noch einmal mit den Fäusten gegen das dornige Gitter. Der Schmerz lenkte ihn davon ab, etwas Unvernüftiges zu tun - er haßte diesen Palast und seine aufgeblasenen Bewohner einfach.

Kurz vor Sonnenaufgang waren die Gefährten wieder unterwegs. Die gleiche Patrouille, die sie zum Palast gebracht hatte, führte sie schweigend und auf verschlungenen Pfaden in Richtung Waldrand. Die grimmige Elfin ließ den drei Männern gegen Abend ihre Waffen aushändigen und wies in Richtung Süden. Bevor sie mit den anderen Wächtern im dichten Wald verschwand, sah sie Dryan noch einmal haßerfüllt an.
"Ich wünsche dir, daß du erfolglos bleibst. Dann werde ich diejenige sein, die dich findet."
Die Blutelfin spuckte Dryan vor die Füße, wandte sich ab und wurde mit dem Unterholz eins.
"Laß sie", sagte der Magier scharf und hielt Telsek, der gerade mit erhobener Axt hinterherstürmen wollte, mit aller Kraft am Umhang fest. "Darauf wartet sie gerade und in diesem Wald hast du keine Chance gegen die Wächter."
"Diese … Verdammte hat dich beleidigt. Schon wieder. Das kann ich nicht einfach …"
"Wir brauchen dich noch, mein Freund", mischte sich Will ein. "So oft hast du schon bewiesen, daß du eine eiserne Selbstbeherrschung besitzt. Es ist sinnlos, wenn du dich jetzt umbringen läßt."
Der Troll atmete ein paarmal tief und ließ dann die Axt sinken. Seine Freunde hatten recht, manchmal war die Vernunft wichtiger als die Ehre. Der letzte Satz dieser Frau hatte das Faß zum Überlaufen gebracht.
"Laßt uns hier verschwinden", murmelte er durch die zusammengebissenen Zähne. "Und zwar möglichst schnell."



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