5. Kapitel


Eine Aufgabe für Diplomaten




Es dauerte noch anderthalb Tage, bis alles aus dem Stützpunkt geborgen war, was sich zu bergen lohnte. Den größten Teil der Waffen, Rüstungen und sonstigen brauchbaren Dinge hatten die Zwerge mitgenommen. Als Gruppe dieser Größe sollten sie problemlos bis zum nächsten Dorf kommen. Und von dort aus gab es sicherlich Möglichkeiten, auf irgendeine Art ihre Heimat zu erreichen.
Will und Dryan waren der Meinung, daß sich einige der Schriften, die Dolmos gesammelt hatte, bei genauerem Studium als lohnenswert erweisen konnten, obwohl sie ein ungutes Gefühl hatten, wenn sie an die Methoden dachten, mit denen der Elementarist an die Erkenntnisse gekommen sein mochte.
Telsek hatte sich einen kleinen staubigen, aber von den Zauberkundigen als interessant eingestuften Teppich als seinen Anteil von der Beute ausgebeten. Die Papiere und Pergamente interessierten ihn wie immer wenig.
Trotz der gewissen Befriedigung, Dolmos ausgeschaltet und die Zwerge befreit zu haben, blieb den Gefährten am Abend vor der Abreise ein ungutes Gefühl übrig.
Der stumpf vor sich hin starrende Takaris, der sich offensichtlich weder an die drei noch an sich selbst erinnern konnte, machte die Stimmung nicht besser. Der Blutelf hockte die ganze Zeit teilnahmslos am Rande des improvisierten Lagers; sein Oberkörper pendelte vor und zurück. Wenigstens hatte er die Kleidungsstücke angezogen, die Dryan ihm gereicht hatte, und nahm ab und zu Nahrung und Wasser an. Aber etwas wie Vernunft oder ein eigener Wille war nicht zu erkennen.

"Was wollte Dolmos eigentlich von Takaris?" fragte Telsek einmal wieder das Naheliegende, das er schon mehrfach ausgesprochen hatte.
Will warf ein Stück Holz in das Feuer.
"Ich habe keine Ahnung", sagte er langsam - auch das war keine neue Antwort. "Takaris murmelt immer wieder etwas von Holz, wenn er zusammenschreckt. Vielleicht wollte dieser Idiot Wahres Holz von ihm haben?"
"Möglich", stimmte Dryan zu und warf einen Blick zu dem Blutwächter, der sich unruhig stöhnend unter der Decke wälzte, die sie ihm übergeworfen hatten.
Wenigstens schien er jetzt endlich zu schlafen, das erste Mal, seit sie ihn gefunden hatten.
"Eigentlich ist das gar nicht so abwegig", fuhr der Elf fort. "Die Zwerge mußten Wahre Erde abbauen und ich wette, daß Dolmos anderswo noch nach anderen Elementen schürfen ließ. An seinen Aufzeichnungen werden wir wohl noch ein Weilchen zu knabbern haben. Aber es scheint mir, als hätte er etwas Größeres vorgehabt als Elementarmünzen zu prägen und zu verkaufen."
Will nickte bedächtig. "Für so eine einfache, wenn auch aufwendige Sache hätte er seine Notizen nicht so verschlüsseln müssen. Bis auf die Versorgungslisten und ein paar simple Elementaristensprüche konnte ich bisher nichts entziffern."
"Und er hat viel Zeit und Geld aufgewendet, um ein Netz von Söldnern, Sklavenjägern und Wächtern aufzubauen, die unabhängig von den Theranern, den Blutelfen und den Flußschiffern operieren", ergänzte Dryan seufzend. "Wir können ihn nicht mehr fragen …"
"Hätte ich etwa abwarten sollen, bis ihr mit ihm …" Telsek fuhr wütend auf und ihm gingen die Worte aus.
Seine Augen glühten schmal im Feuerschein. "Das kann doch nicht …"
"Natürlich nicht." Will hob knapp die Hand.
Das sonst bei Wanderungen übliche Halt-Signal stoppte einstweilen Telseks Ausbruch.
"Lieber Freund, es war genau richtig, was du getan hast", fuhr der Obsidianer ruhig fort und lächelte. "Es wäre sehr schwer gewesen, mit Dolmos fertig zu werden, wenn er sich hätte vorbereiten können. Oder wenigstens etwas mehr Zeit gehabt hätte. Gerade du weißt, wie schnell das Gefühl der Überlegenheit zu einer Schwachstelle wird. Das hast du völlig richtig genutzt."
Der Appell an die Grundsätze der Kriegerausbildung schien zu wirken. Der Troll biß die Zähne zusammen und setzte sich wieder auf seinen Platz.
"War bloß ein Glückstreffer", murmelte er.
"Nicht doch", grinste Dryan. "Das war einfach gut. Du warst einfach gut."
"Trotzdem wäre es günstig, wenn wir mehr über die Organisation wissen würden", fuhr Will fort. "Aber das hätte dieser Mann uns sicherlich nicht erzählt, selbst wenn er überlebt hätte."
"Na dann … Seht zu, daß ihr den Schriftkram schnell übersetzt kriegt", sagte Telsek.
Will nickte bedächtig. Um irgendwelche Informationen aus Dolmos herauszubekommen, hätten sie wahrscheinlich auf dessen eigene Methoden zurückgreifen müssen. Das würde er nicht einmal in Erwägung ziehen. Und seine Gefährten ebenfalls nicht, da war er sicher. Insofern war der schnelle Tod des Elementaristen einfach eine Versuchung weniger.

Die Reise zurück zum Blutwald war ebenso leicht wie der Hinweg, allerdings gab es natürlich weniger Umwege. Takaris nahm die Befehle zum Laufen, Abbiegen oder Rasten so selbstverständlich hin wie ein gut gezähmtes und sehr fügsames Reittier.
Telsek war allerdings der Meinung, daß selbst ein Begleiter eines Tiermeisters wenigstens über einen gewissen eigenen Willen verfügen sollte.
"Das kann nicht gesund sein", sagte er während einer Rast. "Den Kerl könntest du totschlagen und er würde sich nicht einmal wehren."
Dryan nickte. Aber er verkniff sich, seine Vermutung über die Ursache von Takaris' Wahnsinn zu äußern. Er hatte noch zu deutlich das Bild der verstümmelten Blutelfin vor seinem inneren Auge. Die Vorstellung, was Dolmos ihr angetan hatte, war so schrecklich und gleichzeitig so selbstverständlich … In der Schule der Schatten wurden noch ganz andere Experimente durchgeführt.
Aber Dolmos war kein Theraner, da war Dryan sicher. Die lesbaren Aufzeichnungen waren alle in Throalisch abgefaßt und keiner der Schutzzauber für den Stützpunkt, der nach der Auflösung der magischen Strukturen inzwischen versunken sein mußte, stammte direkt aus Thera, wenn auch viele der alten Runen inzwischen auch in Barsaive zur Normalität gehörten.

Bei der fünften Rast, schon in Sichtweite des verfluchten Waldes, sprach es Will endlich aus: "Dolmos … Er hat von uns gelernt, nicht wahr?"
Telsek, der sich die ganze Zeit mit Takaris beschäftigt hatte, in der Hoffnung, daß sich irgendwann ein Funke von Intelligenz zeigte, schüttelte heftig den Kopf.
"Was soll …?" begann er, genau spürend, in welche Richtung sich die Gedanken der Zauberkundigen entwickelten.
"Ja." Dryans Äußerung unterbrach den Troll schroff und stand in der Landschaft wie der nachschwingende Ton einer großen Bronzeglocke.
"Er ist vorgegangen wie ein theranischer Forscher", fuhr der Elf fast unhörbar in der schmerzhaften Stille fort, dann schwieg er.
"Wir haben solche Bücher gelesen", ergänzte Will mit leiser Stimme. "Wahrscheinlich haben wir nie wirklich darüber nachgedacht, wie die Ergebnisse zustande kamen, aber es gibt Anleitungen, wie welche Namensgeber zu allem gezwungen werden können, was man sich vorstellen kann."
"Ich nehme an, daß Dolmos ihm die Dornen herausgerissen hat", setzte Dryan fort. "Schlimmeres kann man einem Blutelfen kaum antun."
Das laute Lachen des Trolls platzte völlig unpassend dazwischen.
"Und? Unsere größten Luftschiffer haben mindestens drei Schiffe auf Grund gesetzt. Die besten Heiler, die ich kenne, haben auf ganz schlimmen Schlachtfeldern Erfahrung gesammelt. Die wildesten Dämonenjäger waren immer die letzten Überlebenden von …"
Telseks Lachen überschlug sich und klang beinahe ebenso wahnsinnig wie Takaris Gestammel.
Will und Dryan starrten entsetzt auf den Krieger. Was war in ihn gefahren? Hieß er etwa das Vorgehen der theranischen Gelehrten gut? Das widersprach allem, was ihr Freund jemals gesagt oder getan hatte.
Will stand vom Feuer auf, trat einen langsamen Schritt auf Telsek zu und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Die langtrainierten Reflexe des Kriegers ließen ihn zumindest ein wenig ausweichen, so daß die schwere Hand des Obsidianers keinen Schaden anrichtete.
Das Lachen des Trolls verstummte jedoch sofort.
"Tut mit leid", sagte Telsek schließlich heiser und leise in das Schweigen seiner erschütterten Freunde hinein. "Ich wollte nicht …"
Er schluckte hart. "Aber mal ernsthaft - ihr macht euch doch nicht verantwortlich für das Vorgehen eurer Lehrmeister."
Will setzte sich wieder, dann nickte er langsam. "Doch, Telsek. Und selbst, wenn wir versuchen, etwas richtig zu machen, dürfen wir nie vergessen …"
Dryan sah mit gequältem Blick auf. "Verstehst du das nicht? Wir können natürlich viel von Namensgebern wie Dolmos lernen, aber eigentlich sollten wir seine Bücher verbrennen."
"Das kannst du doch sowieso nicht", sagte Telsek zwinkernd, wieder ganz der Alte. "Und noch einmal - es ist keine Schande, das Wissen zu nutzen, dann aber richtig. Die Toten macht ihr eh nicht mehr lebendig."
Beide Zauberkundige seufzten gleichzeitig und schwer. Einerseits hatte Telsek natürlich recht, doch andererseits …
"Laßt uns schlafen", unterbrach Telsek eine Fortsetzung des unangenehmen Gesprächs. "Ich nehm die erste Wache, wie immer."
Will rollte sich ohne weiteren Kommentar in seine Decke.
Und Dryan überlegte, welchen Auslöser der wilde Lachanfall des Trolls gehabt haben mochte. Lernen auf Kosten anderer … Irgendwo dort lag der Schlüssel. Der Schlüssel zu dem sehr dunklen Fleck in Telseks Vergangenheit.

Im frühen Nebel des nächsten Morgens wehte ein metallischer Geruch vom nahen Blutwald in das Lager. Will, der gerade seine Gefährten wecken wollte, sog die Luft mit einer gewissen Abscheu ein. Anziehung und Abstoßung gleichzeitig … Natürlich würden sie immer wieder hierher kommen.
Er trat auf das fast erloschene Feuer zu, als Takaris plötzlich hochschnellte wie von einer Stahlfeder getrieben. Die Decke, unter der der Blutwächter gelegen hatte, zerriß bei der heftigen Bewegung in schmale Streifen, wo sie sich an den Dornen verhakte.
Der Obsidianer ahnte, was Takaris trieb, auch wenn er es noch nie selbst gesehen hatte. Mit einem langen Satz warf er den um sich schlagenden Blutelfen zu Boden und rief laut nach seinen Gefährten.
Sowohl Dryan als auch Telsek sprangen sofort auf - der Krieger mit gezogener Axt und der Magier mit einem Spruch auf den Lippen.
"Er hat sich zumindest an etwas erinnert," keuchte Will.
Es fiel ihm offensichtlich nicht leicht, den sich heftig, aber stumm wehrenden Mann zu halten, ohne ihn ernsthaft zu verletzen.
"Nehmt unsere Sachen und dann gehen wir los."
Telsek griff ohne eine Frage nach seinem Gepäck und dem Beutel des Obsidianers; Dryan schnappte sich seine eigenen Habseligkeiten, warf einen schulterzuckenden Blick auf die zerfetzte Decke und trat vorsichtshalber rasch die letzten glimmenden Reste des Lagers aus.
"Laß ihn los, wir folgen ihm", sagte er schließlich.
Vorsichtig erhob sich Will von dem zappelnden Bündel, das immer noch kein Wort von sich gegeben hatte. Einige der Dornen hatten sich wieder einmal sogar durch seine dicke Haut gebohrt, aber der Schmerz war geringfügig gegenüber der Verzweiflung, die im Gesicht des Blutelfen stand.
Als Takaris frei war, sprang er wieder auf - mit einer Energie, die seinem ausgemergeltem Körper kaum zuzutrauen war. Dann lief er leichtfüßig auf den Waldrand zu und achtete nicht im Geringsten auf seine Verfolger.

Die unheimliche Kraft verließ Takaris übergangslos nach nicht einmal zweihundert Schritten innerhalb des Waldes. In einer kleinen moosigen Senke fiel er erst auf die Knie und sank dann ganz zu Boden. Die übliche dunkle Flüssigkeit quoll zäh um ihn herum aus dem weichen Untergrund. Zögernd näherten sich die Gefährten ihrem Schützling, der mit ausgebreiteten Armen dalag.
Dryan bemerkte das Lächeln auf dem bisher so leeren Gesicht des Blutelfen zuerst.
"Kurze Pause", sagte er leise. "Bevor er nicht aufsteht oder uns jemand von denen findet, kommen wir sowieso nicht viel weiter."
"Kannst du mir das erklären?" In Telseks Stimme lag das gewöhnliche morgendliche Grummeln, das er sich bis hierher aufhoben hatte.
Will ließ sich vorsichtig auf einem umgestürzten Baumstamm nieder. Das Holz war noch nicht zu morsch, um sein Gewicht zu tragen. Der Pfad, der sie bis hierher geführt hatte, hatte keine Fortsetzung und schloß sich gerade hinter ihnen in den auch schon bekannten fünf Schritt Entfernung.
"Sie können sich nicht wirklich auf Dauer von hier entfernen", antwortete Will, obwohl Telsek eigentlich von Dryan eine Erklärung erwartet hätte. "Die Verbindung zum Blutwald ist zu stark, sie können sie niemals überwinden. Ich habe bisher immer nur davon gelesen - aber vielleicht sterben sie sogar, wenn sie zu lange außer Reichweite …"
"Hör auf", fuhr Dryan dazwischen.
Sein gequälter Ausdruck ließ Will innehalten.
"Du hast ja recht", sagte der Elf leise. "Aber Takaris ist jetzt zu Hause, mehr oder weniger jedenfalls. Er wird wieder zu Kräften kommen, und ich hoffe, auch seinen Verstand und sein Gedächtnis wiederfinden. Dann kann er sich seinen Ängsten stellen."
Die drei Gefährten spürten deutlich, daß das eine Situation war, in der man viel mehr sagen müßte. Sich seinen eigenen Ängsten zu stellen, war eine Aufforderung, die eigentlich …
Aber jeder zog sich in seine privaten Dunkelheiten zurück.
Noch lange Zeit saßen die Gefährten schweigend auf dem umgestürzten Baum und hofften, daß Takaris erwachte. Dann konnten sie vielleicht weitergehen und mit dem Grübeln aufhören. Keiner der drei bemerkte den sanften Nebel, der sich sehr langsam über sie schob und der - vielleicht - ein Auslöser für die folgenden wirren und beängstigenden Träume war.

Als die Abenddämmerung hereinbrach, war Takaris als Erster wach. Er stand mit leerem Gesicht und bittend ausgebreiteten Händen vor einer Gruppe Blutelfen, die ihn emotionslos betrachteten.
Telsek, Will und Dryan, die aus ihrem fluchschweren Schlaf herausgerissen wurden, sahen sich einer Patrouille gegenüber, die ebenso feindlich auftrat wie diejenige, die sie zuletzt aus dem Wald geführt hatte. Immerhin war die haßerfüllte Frau nicht bei ihnen.
Dryan schüttelte als Erster halbwegs die Fesseln der Träume ab. "Wir müssen mit dem Berater der Schönen und Schreckliche sprechen", sagte er. "Wir haben neue wichtige Erkenntnisse …"
Will und Telsek waren nur Augenblicke später wirklich zu Bewußtsein gekommen - aber ihre Blicke sagten Dryan, was ihm erst in dem Moment klar geworden war, als er es ausgesprochen hatte.
Sie wollten doch Oltis informieren. Kesiaval war der momentane Berater von Alachia, wenn sich nicht inzwischen einmal wieder die Verhältnisse verschoben hatten.
Alles war verdorben …
"Folgt uns", erwiderte der Anführer der Patrouille mit ausdrucksloser Stimme. "Die Herrin wird entscheiden."

Wieder schlossen sich Dornenmenschen dem Weg an, wieder öffneten und verschlossen sich Pfade, wieder verschlang der Blutwald Richtung und Willen. Erst gegen Mitternacht legten die Blutelfen eine Rast ein und stellten Wachen auf, die das kleine Lager umkreisten und mehr die Gefährten und den immer noch vor dümmlich sich hin lächelnden Takaris bewachten als die Umgebung im Auge zu behalten.
Weder Will noch Telsek sagten etwas, aber Dryan fühlte sich trotzdem so, als würden seine Freunde immer wieder "Idiot" murmeln.
"Es tut mir leid", sagte er schließlich leise. "Ich war noch nicht ganz wach."
Die Blutelfen achteten scheinbar nicht auf das Flüstern ihrer Gefangenen.
"So ganz schlimm ist es wohl nicht", erwiderte Will ebenso leise. "Sie haben uns sogar die Waffen gelassen. Wahrscheinlich wissen sie auch nicht so recht, was sie mit uns und ihm anfangen sollen."
Telsek verzog finster das Gesicht, was im blassen Schein des halben Mondes noch bedrohlicher als sonst wirkte.
"Ich hatte doch gesagt, nur Oltis erfährt es", zischte er schneidend. "Dieser Kesevial will Takaris tot sehen. Das ist doch klar. Ausgerechnet den einzigen von denen, der mal ein bißchen netter ist. Und wir können nichts dagegen …"
"Genau", unterbrach ihn Will. "Glaubst du wirklich, daß wir unbemerkt bis zum Palast gekommen wären? Und bist du sicher, daß wir dann auf Anhieb Oltis gefunden hätten? Ohne daß es jemand einem Beamten, einem Offizier oder gar Alachia berichtet?"
Der Troll knirschte mit den Zähnen.
"Nein …", gab er schließlich zu.
"Also müssen wir uns etwas einfallen lassen, wie wir Takaris trotzdem schützen können. Das ist trotz allem ein Hof mit den üblichen Regeln und Hierarchien. Dryan, denk dir eine Rede aus."
"Was?" Der Elf blickte Will entsetzt an.
"Wir kennen das doch", antwortete der Obsidianer. "Du kümmerst dich um die Formulierungen, und ich versuche, mir etwas einfallen zu lassen, was sogar Blutelfen zur Einhaltung juristischer Regeln bringt."
"Na dann, laßt euch was einfallen", sagte Telsek kopfschüttelnd. "Das ist nicht mein Ding."
Leise vor sich hin schimpfend wandte er sich von den Zauberkundigen ab.

Am folgenden Tag gelang es zumindest Will und Dryan, sich vom Sog des Blutwaldes halbwegs frei zu machen. Sie konzentrierten sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung. Telsek jedoch schwankte ständig zwischen Wut und Abstumpfung. Mit Worten kämpfen, das war einfach nicht das Richtige für einen Krieger … Aber ihm fiel auch keine bessere Lösung ein, so sehr er auch grübelte.

Die Ankunft im Palast verlief ähnlich wie bei ihrem letzten Besuch. Gleichgültige bis abschätzige Blicke trafen die Gefährten; der Anblick von Takaris, dessen Zustand sich nicht geändert hatte, führte jedoch zu Getuschel, sobald die Patrouille mit steinernen Gesichtern an den Gruppen der Höflinge vorbeikam.
Wieder wurde die Ausrüstung beschlagnahmt, wieder war ein luftiges, aber ausbruchssicheres Zimmer für sie vorgesehen.
Als Takaris jedoch von ihnen getrennt werden sollte, baute sich Will mit verschränkten Armen einfach vor den Palastwachen auf.
"Wir sind die Anwälte dieses Mannes, und wir verlangen, daß er einem Heiler vorgestellt wird. In diesem Zustand ist er nicht verhandlungsfähig."
Die Uniformierten schauten sich ratlos an.
"Ihr habt nicht das Recht …", begann ein Offizier mit finsterer Miene.
"Doch, das haben sie", unterbrach eine kalte Stimme.
Oltis war im Korridor erschienen. Von der Unsicherheit bei ihrer letzten Begegnung war ihm nichts mehr anzumerken, dennoch verriet ein leichtes Flackern seiner Augen, daß er erwartet hatte, daß Takaris ihn zumindest erkannte.
"Dem Blutwächter Takaris wurde Hochverrat vorgeworfen, also muß er sich vor dem Angesicht der Schönen und Schrecklichen dieser Anklage stellen. Wie es scheint, kann er sich nicht selbst verteidigen, also lassen wir doch diese Minderwertigen für ihn sprechen, wenn sie etwas zu sagen haben. Der ehrenwerte Kesevial wird die Stimme der Anklage sein. Morgen."
Die Palastwächter nickten kurz, drängten Will, Dryan und Telsek in den für sie vorgesehenen Raum und führten Takaris weiter durch den Gang. Bevor sich die Türranken verflochten, konnte Dryan noch feststellen, daß der Blutwächter in ein Zimmer in einiger Entfernung geführt wurde.

"Verdammt!" brüllte Telsek, der sich bis jetzt mühevoll beherrscht hatte. "Die werden ihn umbringen!"
Dryan schüttelte den Kopf. "Das können sie jetzt nicht mehr so einfach. Nach dieser Ansage von Oltis kriegt Takaris auf jeden Fall eine Verhandlung, sogar vor Alachia persönlich. Was sie allerdings mit ihm anstellt, darauf haben wir keinen Einfluß mehr."
Will, der bis dahin völlig ruhig geblieben war, zog unzufrieden die Brauenwülste zusammen.
"Mir gefällt das nicht", sagte er. "Welche Rolle spielt dieser Oltis?"
Der Troll grollte aus tiefster Kehle. "Wenn ich den kriege …"
"Was wollt Ihr dann tun?" fragte es leise aus der Zimmerecke. Diesmal hatte sich Oltis unbemerkt durch die Wand geschoben.
Dryan hielt Telsek, der sich auf den Blutelf stürzen wollte, zurück - er hatte die Magie, die den Adligen schützte, wahrgenommen.
"Es war vielleicht nicht die beste Methode, Takaris zurückzubringen, aber wahrscheinlich die einzige. Morgen vormittag findet die Verhandlung statt, und ich hoffe, daß Ihr genug sagen könnt, um die Herrin davon zu überzeugen, daß Takaris nichts dafür kann, daß er so lange fort war."
"Was ist mit der Klage durch den Berater Kesevial?" fragte Will scheinbar emotionslos. "Wie können wir dagegen abgehen?"
"Er wird noch vor Mitternacht nur mehr der ehemalige Berater der Schönen und Schrecklichen sein", antwortete Oltis mit einem zynischen Lächeln. "Er fällt über seine eigenen, viel zu großen Füße."
Dann deutete er eine leichte Verbeugung an.
"Bereitet Euch gut vor. Wenn Takaris nicht begnadigt wird, kann ich Euch auch nicht mehr helfen."
Damit verschwand der Blutelf wieder durch die Wand.
"Na wundervoll", sagte Telsek düster. "Wenn die Dame uns nicht glaubt, sind wir auch dran."
"Wenigstens ist dieser Berater aus dem Weg", erwiderte Dryan seufzend. "Ich will gar nicht so genau wissen, was da abläuft. Die Chancen sind nicht schlecht, wenn wir richtig überzeugend sind. Will, das Schreibzeug haben sie dir doch nicht abgenommen. Laß uns alles noch mal durchgehen."

Nach einer unruhigen Nacht und einem Frühstück, das aus Früchten und Wasser bestand, wurden die Gefährten in den Audienzsaal geführt. Alachia thronte bleich, schön und mächtig auf ihrem Balkon, umgeben von demütigen Wächtern und Höflingen. Daß Kesevial nirgends zu sehen war, Oltis in der Nähe der Königin stand und Takaris, dessen Blick zwar immer noch leer war, aber durchaus lebendig an der Seite des Saal kniete, gab den Freunden Hoffnung.
Im vorgeschriebenen Abstand blieben die Drei stehen und verneigten sich tief.
"Die Herrin hört", sagte einer der Blutelfen schließlich. Dryan trat einen halben Schritt vor und fiel auf die Knie; Telsek und Will blieben wie verabredet stehen.
"Eure Hochwohlgeborene Majestät", begann der Elf. "Wir, Dryan Kyrendar, Will Rhones und Telsek, Eure untertänigsten Diener, bitten darum, für die Unschuld des Blutwächters Takaris plädieren zu dürfen. Würdet Ihr, Eure Hochwohlgeborene Majestät, uns gestatten, Euch hierzu die Ereignisse der vergangenen Tage darzulegen?"
An dieser Stelle legte Dryan eine kleine Pause ein. Natürlich hatte er die gestochen scharfe Schrift Wills noch vor Augen, aber er mußte an dieser Stelle einfach eine Antwort der Schönen und Schrecklichen abwarten. Er wartete mit demütig gesenktem Blick, so daß er das leichte Nicken Alachias nicht sehen konnte.
Will stieß seinen Freund an, damit er fortfahren möge. Dryan sah auf.
'Diese arrogante Zicke', dachte er nicht zum ersten Mal. 'Sie könnte uns ja wenigstens eines Wortes würdigen. Wenn es nur um uns gehen würde, würde ich eher …'
Dann verdrängte er seinen Unmut, neigte ergeben den Kopf und schilderte in blumigen Worten die Situation, in der sie Takaris gefunden hatten. Schließlich legte er die Schlußfolgerungen der Gefährten über Dolmos' Ziele dar, und zwar so, als wären es keine Vermutungen, sondern unumstößlich beweisbare Tatsachen.
Das leise Schnauben von Telsek hatte hoffentlich niemand außer Dryan selbst bemerkt.
"Wir bedanken uns für die Geduld und das Verständnis Eurer allergütigster Hoheit und maßen uns an, hoffen zu dürfen, daß wir, Eure untergebensten Bewunderer, die wir von Eurer Schönheit geblendet sind, Euch die Unschuld des Blutwächters vor Augen führen konnten.
So hoffen wir, daß Ihr in Eurer unendlichen Güte und Weisheit Euren treuesten Diener Takaris begnadigen möget."
Dryan endete. Das Knie tat ihm weh und ihm war fast übel von dem überzogenen Geschwafel, das er gerade von sich gegeben hatte. Nicht einmal in Thera war eine solche Lobhudelei nötig gewesen. Und Telsek hatte natürlich recht gehabt, als er beim letzten Feilen an der Rede etwas von "Arschkriecher" gemurmelt und dann nur noch stumm aus dem Fenster geschaut hatte.

"Ich habe eure Worte gehört. Ich werde sie bedenken", erklang die melodische Stimme von Alachia nach endlos scheinenden Augenblicken. "Es scheint, als hättet ihr mir einen Dienst erwiesen, der vielleicht …"
Keiner der Drei wagte es, den Blick zu heben.
"Geht", sagte Alachia schließlich. "Ihr habt recht, Takaris ist einer meiner treuesten Diener. Zumindest war er es bis vor kurzem. Ich hoffe, ihr und euresgleichen habt ihn nicht verdorben. Und kommt nicht wieder. Ihr seid hier nicht mehr willkommen."
Ohne den Blick zu heben, verließen die Gefährten den Audienzsaal.
Als sie an dem immer stumpf vor sich hinblickenden Takaris vorbeikamen, flüsterten sie fast gleichzeitig: "Viel Glück, alter Freund!"

"Sie hat uns gewarnt - das ist eher selten, soweit sich weiß", sagte Will trocken, als sie wieder in ihrem Gemach angekommen waren.
"Die Rose ist jedenfalls hin." Dryan zeigte ein paar gelb-braun vertrocknete Blütenblätter. "Das würde nicht einmal ein verliebtes Mädchen in einem seidenen Taschentuch aufbewahren."
Telsek schnaubte belustigt.
"Da bin ich nicht traurig drüber. Nie wieder Blutwald. Ganz sicher. Wenn wir endlich wieder raus kommen."

Kurze Zeit später wurden die Gefährten in der üblichen wortlosen Weise wieder aus dem Palast und bis zum Waldrand geführt.
Erst als die Blutelfen außer Sicht waren, wagte Dryan, den kleinen Lederbeutel, der in seinem Gepäck aufgetaucht war, hervorzuziehen.
"Das haben wir von jemandem zugesteckt bekommen", erklärte er seinen Freunden.
Das Säckchen enthielt eine größere Handvoll Silbermünzen und einen kleinen Zettel.

    -Danke. Die Heilerin erkennt erste Fortschritte. O.-

"Das klingt ja schon wieder ganz anders. Ich versteh den Typen nicht", sagte Telsek. "Hätte der nicht mal was erklären können? Und diese Anhörung war doch …" Er stockte.
"Eine Farce", ergänzte Dryan bitter. "Das ist eines der Worte, die du selten brauchen wirst. Wir waren bloß kleine Figuren in einem Spiel, das wir höchstens halb verstehen."
"Ja. Und jetzt nach Märkteburg", sagte Will aufatmend.
Telsek nickte heftig.
"Da werden wir allerdings ein bißchen Zeit brauchen", bemerkte er. "Der Teppich, da muß ein Spezialist ran … Und vielleicht finde ich jemanden, der mir etwas mehr über Tiere beibringt."



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