3. Kapitel


Eine Niederlage




Die nächsten drei Tage vergingen ohne besondere Ereignisse. Allerdings wurde die Stimmung immer schlechter. Die Gefährten strengten ihre Sinne an, immer auf der Hut vor den Wesen aus der Nacht. Manchmal glaubte einer, das leise Pfeifen zu hören oder in der Ferne eine graue Bewegung zu erkennen. Während der Nachtwachen starrten sie mit gespannter Aufmerksamkeit in die Dunkelheit; wenn sie rasteten, fuhr einer den anderen an, weil dieser mit einer Äußerung oder einem Klappern der Ausrüstung die Geräusche übertönte.
Schließlich schwiegen sich die Freunde an, gereizt und übermüdet, aus dem einfachen Botengang wurde ein Lauern und Schleichen unter ständiger Anspannung. Aber nie waren die Eindrücke sicher, die Bedrohung schien ganz am Rande der Wahrnehmung zu geschehen.
Will brachte es bei einer Marschpause endlich auf den Punkt. „Es reicht. Entweder wir sehen Gespenster oder diese Dinger wissen ganz genau über uns Bescheid."
Telsek nickte. „Das dachte ich von Anfang an. Die machen uns fertig."
„Aber wer sind die und weshalb? Wir scheinen wirklich ein gefährliches Ding im Gepäck zu haben." Das Gesicht des Obsidianers sah besorgt aus. „Um so wichtiger ist es, das Kästchen gut zu bewachen und der Sache auf den Grund zu gehen. Wir haben uns doch noch nie einschüchtern lassen."
Telsek lachte freudlos. „Ja, schon. Aber ich habe lieber einen richtigen Kampf anstatt dauernd darauf zu warten. Dem Feind ins Gesicht sehen..."
Auch Dryan stimmte zu. „Die Ungewißheit zerrt uns allen an den Nerven. Aber was machen wir dagegen?"
Die Antwort auf diese Frage wurde den Freunden abgenommen. Als hätten sie auf ein Stichwort gewartet, erhoben sich aus dem Gras um sie herum vier unförmige Gestalten, und das Pfeifen schwoll zu ohrenbetäubender Lautstärke an. Jetzt bei Tag ließen sich die Wesen auch endlich erkennen: Totengeister in grauen Umhängen. Sie mußten zu Lebzeiten mächtige Krieger gewesen sein, sie überragten Telsek und Will um mehr als Kopfeslänge. Die astrale Dunkelheit, die sie umgab, wirkte so stark in die reale Welt hinein, daß ihre Umrisse zu verschwimmen schienen.
Trotz ihres monatelang trainierten Zusammenspiels waren die drei Gefährten diesmal nicht schnell genug. Einer der Geister schoß auf Dryan zu, berührte ihn kurz und zog sich sofort wieder zurück. Es schien fast, als würde er den Boden nicht berühren. Wie vom Blitz getroffen sackte der Magier zusammen, das Gesicht in einem Ausdruck erstarrt, der fast wie ein Staunen aussah. Er würde sich die nächsten Minuten nicht mehr bewegen können.
Telsek versuchte einen Ausfall und traf einen der Geister mit der Axt an der Schulter. Dessen Pfeifen verstärkte sich zu einem nervenzerfetzenden Jaulen und mit der unverletzten Hand schlug er zurück. Der Krieger konnte nicht schnell genug ausweichen und der dornenbewehrte Panzerhandschuh traf ihn ins Gesicht. Telsek schwankte, konnte sich aber gerade noch auf den Beinen halten. Er wischte sich das Blut aus den Augen und versuchte, seinen Gegner mit einer blitzschnellen Finte zu überraschen. Da traf ihn die flache Klinge eines anderen Angreifers in die Kniekehlen und er fiel auf die Knie. Für einen Moment fragte er sich, warum der Hieb so ungeschickt geführt worden war, da nahm ihm der zweite Schlag des verwundeten Geistes direkt auf den Kopf das Bewußtsein.
In der Zwischenzeit hatte Will eine Eisbola auf einen weiteren Angreifer geschleudert, der das magische Wurfgeschoß jedoch mit einer einfachen Handbewegung zur Seite wischte und dem Obsidianer das Schwert mit der Flamme aus der Hand schlug. Um einen neuen Faden zu wirken, reichte die Zeit nicht mehr, zumal der vierte Geist sich auf den erstarrten Magier stürzte und ihn mit Tritten malträtierte. Er mußte die beiden gleichzeitig ausschalten, aber wie? Da sah er Telsek stürzen und im gleichen Augenblick traf ihn ebenfalls ein Erstarrungszauber.

Will öffnete vorsichtig die Augen. Das Pfeifen war verstummt, die Angreifer verschwunden. So übel war der Gruppe noch nie mitgespielt worden. Sie hatten einfach keine Chance gehabt, was er nie vermutet hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen richtete sich der Elementarist langsam auf. Seine linke Seite schmerzte fürchterlich und die gerade erst geheilte Hand schien durch den Schlag, der ihm das Schwert weggeschleudert hatte, an einigen Stellen gebrochen zu sein.
Will sah sich nach seinen Gefährten um. Telsek lag wie ein gefällter Baum im heruntergetretenen Gras, aber auch er begann sich langsam zu regen. Der Troll stöhnte leise, als er sich auf die Seite drehte - auch er mußte große Schmerzen haben. Aber er war noch in einem Stück und lebte, alles andere ließ sich mit etwas Zeit und ein paar Heilsalben in Ordnung bringen. Doch was war mit Dryan geschehen? Der Magier war durch einen Tritt auf die Seite geworfen worden wie eine hilflose Puppe, das hatte Will noch gesehen, er mußte irgendwo rechts von ihnen im Gras liegen. Hoffentlich. Oder hatten die Totengeister ihn mitgenommen?
Mühevoll stellte sich Will auf die Beine und humpelte in die Richtung, in der er den Magier vermutete. Da, unter dem schwarzen Umhang lag ein zusammengekrümmtes Bündel. Will fand es fast zu winzig, zu zerbrechlich. Er beugte sich hinunter und drehte den Magier vorsichtig um, immer in der Angst, er könnte nicht mehr leben. Doch als Dryan auf dem Rücken lag, sah Will, daß sein Freund zwar nur flach, aber immerhin noch atmete.
Der Elf sah fürchterlich aus. Aus einer tiefen Stirnwunde sickerte Blut, es sah gegen das bleiche Gesicht fast schwarz aus. Dryan mußte schon viel Blut verloren haben, so langsam wie es lief. Telsek hatte sich inzwischen auch aufgerappelt und hatte geistesgegenwärtig Verbandszeug aus einem der verstreuten Rucksäcke geholt. Er quälte sich zu Will hinüber.
Als der Troll Dryan ohne Bewußtsein sah, schien er noch stärker zu schwanken. Er hatte Angst um seine Freund. Er kniete sich neben den Elf und verband die Kopfwunde mit einem sauberen Leinenstreifen. Dann sah er zu Will hinüber, der sich auf der anderen Seite neben Dryan hingehockt hatte und ihn vorsichtig untersuchte.
„Das ist nicht alles", stellte Telsek fest.
Der Elementarist nickte. „Eine große Fleischwunde an der Schulter. Ein paar Rippen gebrochen, genau wie der linke Fuß. Und innere Verletzungen wahrscheinlich. Ich weiß nicht, wo ich auf die Schnelle anfangen soll. Suche unsere Sachen zusammen und zünde ein Feuer an. Ich versuche, mich um ihn zu kümmern. Bist du halbwegs in Ordnung?"
Telsek versuchte ein schiefes Grinsen, was ihm mit seiner zerschlagenen Lippe schwerfiel. „Nichts Ernstes. Wenn ich nicht gerade Bäume fällen soll, geht's schon." Will machte sich an die Arbeit.
Telsek kam angehinkt und stapelte ihre Ausrüstung auf. „Der Beutel ist weg. Sie haben die verdammte Kiste mitgenommen." Der Krieger fluchte hingebungsvoll. Will kniff den Mund zusammen und nähte verbissen weiter an Dryans Schulter.
„Das war's dann wohl", sagte Telsek und der Obsidianer nickte mit grimmigem Gesicht. In diesem Moment begann sich Dryan stöhnend zu regen. Will hielt ihn fest, damit er nicht versuchte aufzustehen. Aber ihr Freund war wenigstens wieder bei Bewußtsein. Es dauerte einen Moment, bis der Elf sich orientiert hatte, aber als er den Haufen Ausrüstung sah und die zerschlagenen und hoffnungslosen Gesichter seiner Gefährten, war ihm die Situation schnell klar. Und trotz seines Blutverlustes und der Schmerzen bewies er, daß er wieder klar denken konnte. Mühevoll und leise fragte er: „Warum leben wir eigentlich noch?"
Will verknotete den letzten Faden und half Dryan, sich aufzusetzen. Der Magier hatte recht. Totengeister waren normalerweise nicht für ihre Rücksichtnahme bekannt, eher für das Gegenteil. Und doch hatten sie die drei Freunde nur gezielt außer Gefecht gesetzt. Sicher, sie wollten nur das Kästchen, aber normalerweise ertrugen die Geister kein Leben, sondern töteten alles, was sich in ihrer Reichweite befand, selbst winzige Tiere.
Es schien fast so, als legten sie es darauf an, verfolgt zu werden. Andererseits würden die Gefährten in ihrem Zustand nicht sehr weit kommen, vor allem Dryan sah so aus, als könne er jeden Moment wieder ohnmächtig werden. Und in welche Richtung waren die Geister verschwunden? Keiner von ihnen hatte es sehen können und die Suche nach den leichten Schleifspuren, die die Angreifer hinterlassen hatten, würde einige Zeit in Anspruch nehmen.
„Das Ganze macht langsam den Eindruck einer Falle. Und ich habe keine Ahnung, wie wir ihr ausweichen können." Als Will ihre Situation gerade zusammengefaßt hatte, wurde sie noch schlimmer. Von Ferne erklang ein klagender langgezogener Laut aus vielen Kehlen, der sich langsam näherte - Wölfe.
„Jetzt ist alles vorbei." Telsek ließ sich kraftlos ins Gras fallen. „Wir haben keine Chance, Freunde, das ist ein großes Rudel." Dryan setzte zu einem Protest an und versuchte, sich in die Höhe zu stemmen. Aber er brach sofort wieder zusammen, sein notdürftig geschienter Fuß trug ihn nicht. Will stützte ihn, so daß er wenigstens zu sitzen kam. Also hockten die drei Männer im Gras und harrten ihres unausweichlichen Schicksals.
Das Heulen der Wölfe kam näher und näher. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten schwärmten die Tiere nicht aus, um ihre Beute zu umzingeln und sie am Ausbrechen zu hindern. Das Rudel schien sich geradlinig auf die erschöpften und hoffnungslosen Gefährten zu zu bewegen. Wahrscheinlich wußten sie instinktiv, daß die drei ihnen nicht entkommen konnten.
Die Sekunden schienen sich zu Ewigkeiten zu dehnen. Telsek, Will und Dryan verband zu guter Letzt nur noch die Hoffnung, daß es schnell gehen würde. Sie lauschten auf das Heulen, das im Gegensatz zu dem Pfeifen der Totengeister wenigstens lebendig klang.
Endlich erschien der Leitwolf, ein ungewöhnlich großes Tier, im hohen Gras vor ihnen. Telsek riß die Augen auf. Eine ungeheure Erleichterung zeigte sich auf seinem grauen Gesicht und er murmelte heiser: „Sturmwölfe..."
Die beiden anderen konnten mit dieser Bemerkung nichts anfangen und als der riesige Wolf erst den Obsidianer, dann den Elfen beschnupperte, sich vor Dryan hinstellte und seinen braungrünen Blick von oben auf ihn richtete, schloß dieser die Augen und hoffte, bewußtlos werden zu können. Dann spürte er, wie der Wolf seinen Kopf auf seinen Schoß legte. Was sollte das werden? Ein schneller, verwunderter Blick zeigte ihm, daß der Rudelführer vor ihm auf dem Bauch lag.
Der Rest des Rudels, etwa zwanzig Tiere, stand im Kreis um sie herum und heulten leise. Telsek lächelte und quälte sich langsam auf die Beine, das Gesicht in den Wind haltend, der aufkam. Will wußte immer noch nicht, was er von all dem halten sollte, aber das Heulen der Wölfe schien sich mit dem Wind, der einen Geruch von Frische, herben Kräutern und kaltem Wasser mit sich brachte, zu einem wohltuenden Gesang zu verbinden. Dryan hatte die Lider wieder gesenkt. Er spürte Kraft durch seinen zerschlagenen Körper strömen, hatte das Gefühl, daß sich seine Wunden schlossen und sich die gesplitterten Knochen wieder zusammenfügten.
„Sturmwölfe", wiederholte Telsek. „Sie verabscheuen das Böse und verfolgen Untote hunderte Meilen weit. Sie rufen den Sturm und sie heilen die, die an ihrer Seite streiten. Wundervolle Tiere. Ich dachte nicht, daß ich jemals welchen begegnen würde."
„Und was wollen sie von uns?" fragte Will. „Ich schätze, daß wir mit ihnen die Totengeister bekämpfen sollen. Sie führen uns zu ihrem Lager - das steht jedenfalls in den Legenden."
Der Troll lächelte immer noch glücklich. „Laß uns ein wenig ausruhen, das werden sie verstehen." Telsek griff nach seiner Decke und legte sich ins Gras. Der Leitwolf erhob sich wieder. Dryan richtete sich auf und streckte sich. Der Schmerz war verschwunden, er fühlte sich nur noch erschöpft.
Die Wölfe lagerten sich um sie herum und schienen sie beschützen zu wollen. Nach Telseks Erklärung halbwegs beruhigt und wissend, daß sie die Pause dringend benötigten, streckten sich der Magier und der Elementarist ebenfalls aus. Nach zwei, drei Stunden Schlaf würden sie sich so weit erholt haben, daß sie es gemeinsam mit dem Rudel mit den Totengeistern aufnehmen konnten. Zwei der Wölfe umkreisten ihr Lager wachsam. Schon bald fielen die Freunde in tiefen Schlaf.
Ein leises Jaulen weckte sie. Der Leitwolf saß in ihrer Mitte, den mächtigen Kopf hochgestreckt. Als die Gefährten sich aufsetzten, noch nicht vollständig erholt, aber doch halbwegs regeneriert, brach er das Heulen ab. Das Rudel hatte sich bereits gesammelt und schien nur auf die Männer zu warten. Jetzt kam es darauf an. Hatten sie mit den Wölfen gemeinsam eine Chance? Egal, sie würden es jedenfalls versuchen.
In kurzer Zeit hatten sich die drei zu ihrer üblichen Marschordnung formiert und gingen los. Der Rudelführer trabte neben ihnen her und gab die Richtung an. Er hatte augenscheinlich keine Schwierigkeiten, die Spur der Totengeister zu verfolgen. Entweder war seine Nase wirklich so hervorragend oder er spürte das Böse wie einen Geruch. Der große Wolf schien sich Mühe zu geben, sein Tempo an die Zweibeiner anzupassen, aber trotzdem wurde er nach und nach immer schneller. Will, der vorneweg lief, blieb neben dem Tier, so daß er nach einiger Zeit mit langen Schritten laufen mußte. Telsek fiel es am schwersten, aber auch er schaffte es, die Geschwindigkeit zu halten.
So vergingen etwa zwei Stunden. Als die Dämmerung einbrach, wurde der Leitwolf langsamer und blieb schließlich etwa hundert Schritte vor einem Wäldchen stehen. Die Gefährten waren überrascht, wie lange sie das Wolfstempo durchgehalten hatten. Irgendwie schien es nicht sehr an ihren Kräften gezehrt zu haben und sie hatten eine gute Strecke zurückgelegt. Trotzdem mußten sie sich auch erst mal ein wenig verschnaufen; der große Wolf stand da und sah ihnen aufmerksam und erwartungsvoll zu. Das Rudel beobachtete sie ebenfalls, fast alle Wölfe hatten sich zu einer Gruppe zusammengestellt, die nur auf ein Signal zu warten schien.
Drei Wölfe umkreisten die Gruppe, streifte durch die Umgebung - sie schienen die Kundschafter oder Pfadfinder des Rudels sein.
„Es geht wohl los", sagte Will. „Wir sollten uns vorbereiten." Dryan nickte und wirkte wie der Elementarist seine Schutz- und Kampfzauber. Die Rüstungen magisch verstärken, ein paar Fäden wirken und Telsek mit Kampfeswut belegen... Vielleicht schafften sie es diesmal.
Sie hatten ihre Vorbereitungen gerade abgeschlossen, als die vierbeinigen Pfadfinder wie von einer Sehne abgeschossen aus den verschiedenen Richtungen zurück zur Gruppe rasten. Kurz darauf vernahmen auch die drei Männer das inzwischen bekannte Pfeifen. Wenige Augenblicke später hatten die Totengeister die Versammlung aus Wölfen und Namensgebern erreicht und stürzten sich mit verbissener Wut auf sie.
Inzwischen waren es fünf von ihnen, mächtige Krieger, die schon lange nicht mehr lebendig waren. Ihr Schattendasein hatte sie jedoch nicht wie andere Untote geschwächt, sondern stärker und geschickter gemacht und ihr Körper wurde durch den bösen Geist in ihnen und ihren unbändigen Haß auf alles Lebendige vor den Auswirkungen der Zeit geschützt. Diesmal jedoch hatten sie ihre Gegner unterschätzt.
Die ersten Versuche, die Namensgeber in ihre gefürchtete Erstarrung zu reißen, scheiterte an deren magischen Barrieren. Telsek, durch den Zauber gestärkt, stürzte sich mit einem wilden Schrei auf einen der Angreifer, die schwere Axt über dem Kopf herum schwingend wie ein Kinderspielzeug. Die scharfe Schneide traf den Geist am Hals, zwischen Rüstung und Helm. Das Langschwert und der reichverzierte Schild des untoten Kriegers fielen klappernd zu Boden, als der Körper zu Staub zerfiel und der ihn bewohnende Geist sich mit verklingendem klagendem Zischen auflöste.
Ein weiterer Geist wurde von zwei Eisbolas getroffen und konnte nicht mehr ausweichen, da die Zauberkundigen ihn von verschiedenen Seiten bedrängten. Die stachligen Kugeln zersplitterten beim Aufprall, und wenn auch die Kälte ihm nichts anhaben konnte, verletzten ihn die Bruchstücke und die aus magischem Eis bestehenden Ketten wanden sich um seinen Körper. Ehe der Totengeist sich befreien konnte, sprang ihn der Leitwolf von vorn an und warf ihn zu Boden. Drei weitere Wölfe verbissen sich in Arme und Hals, dann zerfiel auch dieser Gegner.
Die anderen Totengeister versuchten sich mit kreisenden Schwertern gegen die Wölfe zur Wehr zu setzen, die sie von allen Seiten bedrängten. Die Tiere waren schnell und geschickt, trotzdem wurden einige von ihnen getroffen. Dennoch waren es so viele, daß die Totengeister Mühe hatten, sie sich vom Leibe zu halten.
Dryan und Will konnten nicht mit Magie in das Handgemenge eingreifen, weil sie sonst auch Wölfe getroffen hätten und griffen zu ihren Waffen. Dryan schwang den schweren Stab von Akarem und Will hatte in einer Hand Kegels Schwert, das rot glimmte, und in der anderen seine Streitaxt, die zwar nicht magisch, aber dennoch eine vorzügliche Waffe war. Telsek hatte den Pulk schon erreicht und schlug mit Lorms Axt zu, immer so hoch, daß er möglichst keinen der Wölfe treffen konnte.
Die Geister wurden offensichtlich schwächer, auch wenn aus ihren Wunden kein Blut floß. Allerdings war es ihnen gelungen, einige Wölfe erstarren zu lassen und andere schwer zu verletzen. Einer der Pfadfinder, eine große Wölfin mit ungewöhnlich hellem Fell, hatte bereits viel Blut verloren und brach ohne Bewußtsein zusammen.
Da hob der Anführer des Rudels seine Schnauze in den Abend und führte das vor, wofür die Wölfe ihren Namen erhalten hatten. Der große Wolf begann mit einem mächtigen Gesang und sein Heulen mischte sich mit dem Heulen eines aufziehenden eisigen Sturms. Die Wölfe zogen sich von ihren Gegnern einige Ellen zurück und schlossen sich dem Heulen ihres Anführers an. Faustgroße scharfkantige Hagelkörner peitschten durch die Luft, bildeten einen Wirbel aus durchschlagenden Geschossen um die Totengeister herum. Auch die drei Gefährten sprangen zurück.
Außerhalb des Strudels sanken die Eisbrocken sanft wie Schneeflocken herab und landeten wie gezielt auf den verletzten Wölfen. Während das Eis schmolz, versiegten Blutungen und schlossen sich Wunden.
Der Hagel nahm den Totengeistern die Sicht und, ihrem immer verzweifelterem Pfeifen nach zu urteilen, er riß schwere Wunden. Die beiden Zauberkundigen schickten noch zwei Feuerbälle in das Herz des Sturms, dann legte sich der Wind.
Der Kampf war zu Ende. Die Männer konnten es kaum glauben - keiner war schwer verletzt, die Geister schienen endlich ihre Ruhe gefunden zu haben. Von ihren Körpern war nichts als Staub geblieben und die Waffen, Schilde und Rüstungen alterten zusehends. Sie schienen in Minutenschnelle die Jahrhunderte nachzuholen.
Auch die Sturmwölfe hatten die Auseinandersetzung relativ unbeschadet überstanden. Einige Tiere leckten ihre Wunden, zwei der unverletzten Wölfe kümmerten sich um die weißgraue Kundschafterin, die bewußtlos im Gras lag. Aber auch sie würde wieder auf die Beine kommen.
Dryan wußte nicht so recht, wie er sich bei den Wölfen bedanken sollte. Schließlich verneigte er sich tief und ehrerbietig vor dem Leitwolf, der wie in stummer Erwiderung seinen Kopf vor dem Elf und dann vor den beiden anderen neigte. Auch Will und Telsek verbeugten sich. Dann stieß der Wolf Will mit der Schnauze an und richtete seinen Blick auf das Wäldchen.
„Du meinst, wir sollen dort hineingehen?" fragte der Obsidianer. Der Wolf zeigte unverwandt mit der Schnauze auf die Ansammlung von Bäumen und Büschen, die silbern im Mondlicht dalagen, so als wolle er dem Elementaristen auf diese Weise antworten.
Telsek schulterte sein Bündel und schloß seine Hand um den Griff von Lorms Axt. „Laßt uns gehen. Vielleicht hatten die Geister im Wald ihr Lager und wir finden dort unser Kästchen wieder. Wenn wir schon alles erledigt hätten, würden die Wölfe jetzt abziehen. Aber sie warten auf etwas."
„In Ordnung. Ich würde zwar gerne etwas ausruhen, aber..." Will seufzte. „Bringen wir es hinter uns." Die drei machten sich auf den Weg.

Der Wald war ausgedehnter als er von weitem ausgesehen hatte. Und er war sehr dicht. Kaum waren die Freunde ein paar Schritte weit vorgedrungen, als die Wipfel der Bäume auch schon das helle Mondlicht ausschlossen. Das Unterholz bestand zum großen Teil aus Brombeerranken, die dem Magier und dem Elementaristen die Gewänder zerfetzten und an Telsek Waden lange schmerzhafte Kratzer hinterließen. Nach einiger Zeit fanden sie etwas wie einen Wildwechsel, der sie besser vorankommen ließ.
Allerdings war es auch auf dem schmalen Pfad extrem dunkel. Dryan konnte nur die Umrisse der Bäume und Büsche erkennen, aber er wagte es nicht, den Lichtquarz auszupacken. Der Troll hatte es etwas leichter, da er die Wärme des Elfen sehen konnte und ihm nur zu folgen brauchte. Aber Will konnte sich nur an den wenigen Geräuschen, die seine Freunde machten, orientieren oder sich wie ein Blinder an einem der beiden festhalten und führen lassen. Er stolperte und fluchte leise. Dann stieß er gegen Dryan, der abrupt stehen geblieben war.
Vor ihnen lag eine kleine Lichtung, die vom Mond sanft beleuchtet wurde. Außerdem brannte ein kleines, gemütliches Feuer in Zentrum, so daß sie das Rund gut überblicken konnten. Kein Wesen war zu sehen. Ein kurzer Blick in den Astralraum zeigte Dryan auch in der näheren Umgebung nicht Auffälliges, nur die Pflanzen und Tiere des Waldes. Neben dem Feuer allerdings lagen einige Bündel, die sehr interessant aussahen.
Der Elf gab sich keine Mühe mehr, seine Stimme zu dämpfen: „Unser Beutel! Und alles noch drin!" Er stürzte auf das Feuer zu. Telsek und Will folgten ihm, fest darauf vertrauend, daß Dryans Verhalten Sicherheit verhieß.
Es schien wirklich das Lager der Totengeister zu sein. Neben dem Feuer fanden die Gefährten nichts als die grauen Umhänge, die bei der ersten Begegnung ihre Feinde wie Steine hatten wirken lassen und unter einem davon ihren magischen Beutel. Dryans Inventur auf die Entfernung erwies sich als richtig, die Geister schienen nichts angerührt zu haben. Der Spezialknoten war nicht geöffnet worden. Das schwarze Kästchen war immer noch gründlich in das eigenartige Tuch gewickelt, die Kristallschatulle, die das Buch der blauen Geister vor dem Zerfall schützte, schien unangetastet. Auch das Dämonenbuch und die blaue Drachenstatue, von der niemand etwas wußte, nur daß sie mächtig war, hatten sich nicht verändert.
„Irgendwie ist das alles etwas eigenartig", bemerkte Dryan. „Sie haben nicht einmal nachgesehen, was in dem Beutel ist. Entweder sie wußten es vorher - aber warum haben sie hier auf uns gewartet? Sie hätten schon längst über alle Berge sein können. Oder aber der Inhalt des Beutels war ihnen egal und das Ganze sollte uns hier in den Hinterhalt locken. Das wäre auch die einzige Erklärung für das Feuer. Aber dann hätten sie uns wirklich schon vor ein paar Stunden töten können."
Will nickte. „Es gibt noch eine Möglichkeit - vielleicht sollten sie das Kästchen für jemanden besorgen, den sie hier treffen sollten."
Diesmal hatte Telsek einen Einwand. „Das ist immer noch kein Grund, uns am Leben zu lassen. Ich denke eher, daß wir hierhergelockt wurden, um jemanden zu treffen."
„Stimmt, mein Freund." Im Stillen ärgerte sich der Elf fast, daß er nicht selbst auf die Idee gekommen war. „Was machen wir jetzt? Warten wir auf den großen Unbekannten oder verschwinden wir schleunigst?"
„Ich will endlich wissen, was hier los ist. Außerdem bin ich müde nach dem heutigen Tag und ihr seht auch nicht besser aus. Weit werden wir nicht mehr kommen. Ich übernehme die erste Wache und wecke dich dann, Telsek." Damit schnitt der Obsidianer jede weitere Diskussion ab. Telsek und Dryan waren nicht böse über diese Entscheidung, denn sie spürten die Kämpfe und den Weg der vergangenen Stunden ebenfalls in den Knochen. Sie legten sich in der Nähe des Feuers nieder und schliefen bald tief und ruhig.

Wills Wache war noch nicht zur Hälfte vergangen, als er seine Gefährten weckte. „Wir bekommen Besuch", stellte er fest. „Hört ihr es?"
Telsek, der gerade wieder eine seiner endlosen Litaneien anstimmen wollte, verstummte. Aus östlicher Richtung, von dort, wo ein kleiner Weg in die Lichtung mündete, waren Hufschläge zu hören. Ein einzelnes Pferd, das sich in gemächlichem Tempo näherte. Sofort bereiteten sich die Freunde auf einen Angriff vor, obwohl ein einzelner Reiter zunächst einmal nicht bedrohlich erschien. Vielleicht war es nur ein harmloser Reisender, der zufällig den Wald durchquerte. Oder aber auch ein Gegner, der so mächtig war, daß er keine Begleitung benötigte.
Wenig später tauchten Pferd und Reiter im Lichtkreis des Feuers auf. Ein Zwerg in einem Kapuzenumhang erschien auf einem stämmige Pony auf der Lichtung. Er zügelte sein Reittier, breitete die Arme aus und begrüßte die Gefährten mit einem fröhlichen: „Schön, euch zu sehen, meine Freunde!"
Dryan, Telsek und Will sahen sich verwundert an. Keiner von ihnen gab sein wachsame Haltung auf, als der Elf den Ankömmling ansprach: „Guten Abend, Reisender. Was können wir für Euch tun?"
Der Zwerg lachte herzlich über die förmliche Begrüßung und schlug die Kapuze zurück - es war Charboyya. Die Gefährten entspannten sich. Es wunderte sie zwar, wie der Händler sie gefunden hatte, aber trotzdem tat es gut, nach all den Ereignissen endlich ein bekanntes und freundliches Gesicht zu sehen.
Der Zwerg glitt von seinem Pony. Etwas an seiner Bewegung wirkte unbeholfen. Vielleicht war er zu lange unterwegs gewesen und ihn schmerzten seine Glieder. Oder aber er war verletzt - jedenfalls setzte er sich steif und ohne einen Schritt weit gegangen zu sein zu den Gefährten ans Feuer und überließ das Pony sich selbst. Das Tier schien jedoch gut abgerichtet zu sein. Es entfernte sich nur ein paar Schritte und begann, am Rande der Lichtung ruhig zu grasen.
Charboyya holte einen Bierschlauch unter seinem Umhang hervor und ließ ihn kreisen. Die Freunde hatten sich inzwischen auch wieder gesetzt, waren aber noch zu müde, um auf die Fragen des Zwerges nach Weg und Wohlergehen ausführlich zu antworten. Charboyya schien ausgelassen, er lachte und riß Witze.
Nach einiger Zeit wurde Dryan aufmerksam. Ihr Freund stellte Fragen, die harmlos klangen und doch wirkte es so, als wolle er sie aushorchen. Der Elf stieß Telsek an, der nach ein paar Schlucken Bier so schläfrig war, daß er nicht merkte, daß er gerade alles, was sie über das Blaue Buch der Geister je erfahren hatten, ausplauderte und ihre eigenen Vermutungen gleich dazugab. Der Troll schreckte auf und verstummte. Auch Will bemerkte, daß irgend etwas an der Situation nicht stimmte. Nur Charboyya schien die plötzliche Unterbrechung nicht wahrzunehmen und plauderte munter weiter.
In eine Pause hinein fragte Dryan beiläufig: „Wie geht es eigentlich deinen Eltern?"
„Bestens, alles bestens bei den beiden", antwortete der Zwerg und wollte weitersprechen. Doch er kam nicht dazu. Die drei sprangen wie von Blutbienen gestochen auf und griffen zu ihren Waffen.
Will richtete die Schwertspitze auf den Hals des Zwerges. „Wer bist du?" brüllte er.
Mit unschuldiger Verwunderung antwortete ihr Gast: „Charboyya, wieso? Ihr kennt mich doch..."
„Blödsinn", stellte Telsek sachlich fest. „Charboyyas Vater ist schon lange tot."
Der Unbekannte sprang auf und richtete sich zu voller Größe auf. Das war also der Grund für seine eigenartigen Bewegungen - er hatte sich zusammengekauert, um den Zwerg überzeugend spielen zu können. Stehend überragte er sowohl den Troll als auch den Obsidianer. Er hatte sich so schnell bewegt, daß Will gar nicht dazu kam, mit Kegels Schwert zuzustoßen.
Unter dem Umhang kamen eine schwarze Rüstung und ein zweihändiges Schwert zum Vorschein; dazu kam eine pfeifendes Geräusch - ein Totengeist mit dem Gesicht Charboyyas stand vor ihnen!
Der Geist schien stärker und größer zu sein als die anderen, die die Gruppe bekämpft hatte, außerdem glühte in seinen Augenhöhlen rote Lichter, die eine maßlose Wut zum Ausdruck brachte. Nach einer kurzen Schrecksekunde begann der Kampf - er dauerte nicht lange. Der Zorn verleitete den geisterhaften Krieger zu einem unüberlegten und vorschnellen Angriff mit dem Schwert, statt seine Gegner erstarren zu lassen. Die schwere Klinge ging pfeifend an Will vorbei in das Gras der Lichtung und bevor der Totengeist sie wieder heben konnte, wurde er von einer Eisbola getroffen. Ein paar gezielte Schläge von Telsek und Will reichten dann aus, um ihn zu Boden zu strecken.
Aufatmend beobachteten die Gefährten, wie sich der Körper in Staub auflöste und der Schatten des Geistes mit einem ersterbenden Zischen verschwand. Keiner hatte eine ernsthafte Verletzung davongetragen. Im gleichen Moment wieherte das Pony auf und verschwand in panischem Galopp in der Nacht. Dabei verlor es eine Satteltasche, als es streifend an einem Baum vorbeisprang.
Nachdem die Rüstung und das Schwert zerfallen waren, wagten die drei endlich, die Überreste ihres nächtlichen Besuchers zu untersuchen. Der Zwergenumhang war wohl halbwegs neu gewesen, er wies im Gegensatz zu dem Staub und Rost, der auf ihm lag, kaum Alterungserscheinungen auf. Am interessantesten war allerdings das blaue, reich bestickte Stück Stoff, das in der Kapuze lag. Will kniete sich nieder und berührte es vorsichtig.
„Das... das darf nicht wahr sein", flüsterte er mit ehrfürchtiger Stimme. „Oltions Maske. Auch keine Legende, wie deine Sturmwölfe, Telsek. Wer sie benutzt, kann jedes Gesicht tragen, das er einmal gesehen hat. Deshalb..." Er stockte und sah seine Gefährten an. Die beiden hatten augenscheinlich den gleichen Gedanken.
„Unser geheimnisvoller Auftraggeber", stellte Dryan fest.
Der Troll nickte. „Wißt ihr noch, wie er Charboyya angestarrt hat? Aber... was soll das Ganze bloß? Er hätte uns das Kästchen doch nicht geben brauchen, wenn er es jetzt wieder haben wollte."
„Eine Falle", sagte Will. „Extra für uns aufgestellt." Er stand auf, die Maske in der Hand. „Mir ist bloß noch nicht klar, weswegen. Aber das kriegen wir raus. Ich bin mehr denn je neugierig auf den Empfänger unseres Kästchens."
Dryan und Telsek stimmten ihm zu. „Vielleicht finden wir etwas in Tasche", meinte der Magier. Will holte sie vom Rand der Lichtung und schüttete ihren Inhalt auf den Boden neben das Feuer. Das abgewetzte Lederbehältnis enthielt augenscheinlich vor allem Kleinigkeiten, die wohl dem Vorbesitzer des Ponys gehört hatten. Ein Kamm, ein kleines abgenutztes Messer, eine Börse mit ein paar Silberstücken. Alles Dinge, für die ein Totengeist wohl kaum Verwendung hatte. Für die Gefährten war allerdings das eingerollte Stück Pergament von Interesse.
Vorsichtig öffnete Dryan das Wachssiegel, das mit einer stilisierten Flamme verziert war. Er trat näher ans Feuer und las vor:

„Meister!
Wir haben Euren Auftrag ausgeführt. Sie sind schwächer, als Ihr annahmt, aber wir haben sie wie befohlen am Leben gelassen. Wir werden sie weiter im Auge behalten und sie auf den richtigen Weg führen.
Nejaribu"

„Tja, eigentlich nichts Neues", sagte Telsek. „So weit waren wir auch selber gekommen."
Will wiegte den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich fürchte, der Brief wirft nur neue Fragen auf. Warum ist der Bote zurückgekommen? Was bedeutet 'der richtige Weg'? Wenn der Empfänger des Kästchens dieser Meister ist, sind wir doch sowieso zu ihm unterwegs. Ist da jemand im Spiel, der mit dem Kästchen gar nichts zu tun hat? Aber wieso hat der uns dann das Paket geben lassen?"
Auch Dryan hatte keine Antworten. Dafür gähnte er ausgiebig.
„Dann laßt uns erst mal schlafen." Der Obsidianer stand auf. „Meine Wache ist noch nicht ganz um. Ich glaube zwar nicht, daß wir in dieser Nacht noch einmal gestört werden..." Wie zur Bestätigung seiner Worte ertönte aus Richtung Süden Wolfsgeheul, das sich langsam entfernte.
„Sie verabschieden sich von uns. Das war also der letzte der Geister", meinte Telsek. „Schade eigentlich. Sie waren ganz nett. Die Wölfe, meine ich." Mit diesen Worten rollte er sich wieder in seine Decke ein und beeilte sich, bis zu seiner Wache den versäumten Schlaf nachzuholen.



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